Drachenmagier
Wie er sich danach gesehnt haben muß, mit dem jungen Mann,
der sein
Schwiegersohn hätte werden sollen, zusammen Totenwache
für Sabia zu halten!
In unseren Gemächern
angelangt, berichtete meine Mutter, was sich ereignet hatte.
»Im selben Moment, als
Sabia erwachte, wußte sie, was Devon getan hatte. Sie
wußte, daß er sich für
sie opfern wollte und daß er eines schrecklichen Todes
sterben würde. Von dem
Augenblick an«, fuhr Mutter fort und wischte sich mit dem
Armelzipfel über die
Augen, »verlor das arme Kind den Willen zu leben.
Sie weigerte sich zu essen,
weigerte sich, ihr Bett zu verlassen. Nur wenn ihr Vater ihr
das Glas an die
Lippen hielt, trank sie ein paar Schlucke Wasser. Sie wollte mit
niemandem
sprechen, sondern lag nur da und starrte aus dem Fenster. Im Schlaf
wurde sie
von Alpträumen heimgesucht. Man erzählt sich,
daß ihre Schreie im ganzen Schloß
zu hören waren.
Und dann eines Tages
schien es ihr besser zu gehen. Sie stand auf, zog das Kleid an, das sie
getragen hatte, als ihr drei das letzte Mal zusammen wart, und
wanderte leise
singend durch die Zimmer. Es waren traurige, fremdartige Lieder, die
jeden mit
Beklommenheit erfüllten, aber man hoffte, es sei ein
Zeichen, daß sie genesen
war. Leider bedeutete es genau das Gegenteil.
An dem betreffenden
Abend bat sie ihre Duena, ihr etwas zu essen zu holen.
Überglücklich, daß Sabia
Hunger verspürte, eilte die Frau nichts Böses ahnend
davon. Als sie
zurückkehrte, war Sabia verschwunden. Voller Angst weckte die
Duena den König.
Man suchte im ganzen Palast.«
Meine Mutter
schüttelte den Kopf. Die Tränen machten sie
stumm. Endlich nahm sie wieder den
Ärmel in Gebrauch und erzählte den Rest.
»Man fand ihren Körper
auf der Terrasse, wo wir damals saßen und wo ihr uns
belauscht habt. Sie hatte
sich aus dem Fenster gestürzt und lag fast an derselben Stelle
wie der
Elfenbote, als er starb.«
Ich muß jetzt
schließen. Wenn ich weiterschreibe, muß ich weinen.
Der Eine behüte deinen
Schlummer, Sabia. Keine furchtbaren Träume werden dich mehr
quälen.
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Kapitel 18
Surunan, Chelestra
Der Gedanke an die
Bibliothek der Sartan ließ Alfred nicht mehr los, verfolgte
ihn wie der Geist
in einem Schauerroman, berührte ihn um Mitternacht mit der
kalten Hand im Gesicht
und winkte mit dem gekrümmten Finger aus dem
staubigen Schatten moosgrüner
Samtportieren, um ihn ins Verderben zu locken.
»Unsinn«, sagte er
dann zu sich selbst, drehte sich auf die andere Seite und versuchte,
den Geist
dadurch zu bannen, daß er ihn in der Gruft des Schlafs
begrub.
Das half für die
Nacht, aber das Schemen heftete sich auch tags hartnäckig an
seine Fersen.
Alfred saß beim Frühstück und vollzog das
Ritual der allmorgendlichen Floskeln,
während er in Wirklichkeit an nichts anderes denken konnte als
an Ramu, der das
bewußte Fach inspizierte. Was befand sich darin, das
niemand wissen durfte?
»Neugier.
Unbeherrschte Neugier«, rügte Alfred sich.
»Samah hat recht. Ich habe viel zu
lange unter Nichtigen gelebt. Mir geht es wie dem
Mädchen in der Geschichte,
die Grams Kinderfrau ihm oft erzählte. ›Du darfst
jeden Raum des Schlosses
betreten, nur nicht die verschlossene Kammer am Kopf der
Treppe.‹ Und ist die
dumme Person zufrieden mit den übrigen
einhundertvierundzwanzig Zimmern im
Schloß? Nein, sie kann nicht essen, nicht schlafen und findet
keine Ruhe, bis
sie die Tür zu der verbotenen Kammer geöffnet hat.
Genauso geht es mir. Die
verbotene Kammer lockt. Aber ich werde mich hüten! Ich werde
keinen Gedanken
mehr daran verschwenden. Ich will zufrieden sein mit den anderen
Zimmern, die
voller Schätze sind. Und ich will glücklich sein. Ich
will glücklich sein.«
Leichter gesagt als
getan. Mit jedem Tag, der verging, fühlte er sich
unglücklicher. Zwar versuchte
er, seine zunehmende Ruhelosigkeit vor Gastgeber und
Gastgeberin zu verbergen
– mit Erfolg, bildete er sich ein. Samah beobachtete ihn
aufmerksam, wie ein
Geg ein defektes Überdruckventil des Allüberall, von
dem er nicht weiß, wann es
explodiert. Eingeschüchtert von Samahs
übermächtiger Persönlichkeit,
gedrückt
vom schlechten Gewissen desjenigen, der weiß, daß
er etwas falsch gemacht hat,
verhielt Alfred sich unterwürfig und still in der Gegenwart
des Archonten und
wagte kaum, den Blick zu dessen strengem, unnachgiebigem Gesicht zu
heben.
Während
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