Drachenmonat
dahinter war.
Ich hörte ein Geräusch vor meinem Zimmer. Es schien aus der Küche zu kommen, etwas ging in tausend Stücke.
Mutter stand noch dort, als ich kam.
Der Fußboden war mit Scherben bedeckt.
»Ich wollte das abgewaschene Geschirr einräumen«, sagte sie.
»Das ist noch nicht trocken«, sagte ich.
»Deswegen ist mir der Teller aus den Händen gerutscht.«
»Klar.«
»Dann warte ich lieber, bis das Geschirr trocken ist«, sagte sie.
»Ich kümmere mich dämm«, sagte ich.
»Aber ich muss etwas tun, Kenny.«
»Geh lieber ein wenig spazieren.«
Sie sah aus dem Fenster.
»Es ist aber schon dunkel.«
»Es ist ja auch Abend«, sagte ich.
»Abends mag ich nicht spazieren gehen.«
»Wenn du tagsüber nicht aus dem Bett kommst, kannst du nur abends spazieren gehen.«
»Vielleicht gibt es etwas Gutes im Radio«, sagte sie.
»Ich leiste dir Gesellschaft, wenn du rausgehen willst«, sagte ich. »Wir müssen uns ein wenig bewegen, einmal um den Häuserblock.«
Sie schaute wieder aus dem Fenster, als wüsste sie nicht, welchen Häuserblock ich meinte. Vielleicht hatte sie es vergessen.
Während wir dort in der Küche standen, hatte ich das Gefühl, als würde Mutter nie mehr zur Tür hinaus, die Treppe hinunter, auf den Hof, auf die Straße und um den Häuserblock gehen. Plötzlich bekam ich Angst. Die Wohnung, in der wir lebten, schien sich langsam in ein Gefängnis mit unsichtbaren Schlössern verwandelt zu haben. Die Schlösser hingen nicht an den Türen, sie waren in unseren Köpfen festgeschraubt. Jetzt begannen sie Mutters Kopf zu versperren, und vielleicht waren sie auch schon in meinem Kopf, und ich würde auch wie in mir eingeschlossen werden.
»Wir gehen ein andermal«, sagte Mutter und sah mich an.
»Klar.«
»Heute Abend ist es schon zu spät.«
»Ich geh jedenfalls raus, einmal um den Häuserblock.« Ich meinte jemanden auf dem Hof rufen zu hören. Mutter schien es nicht zu hören. »Da unten sind Leute«, sagte ich.
»Es reicht, wenn du auf den Hof gehst«, sagte Mutter. »Ich mag es nicht, wenn du im Dunkeln draußen bist.«
Leute und Leute. Der da unten schrie, war Bengt. Er war ein Jahr jünger als ich und wohnte in dem Eingang uns gegenüber. Jeden Abend hielt er sich eine Weile auf dem Hof auf und tat nichts, als wäre das sein einziges Hobby. Manchmal schrie er, manchmal war er still. Er stand immer in derselben Ecke, manchmal mit dem Rücken zum Hof, manchmal mit dem Gesicht zum Hof wie jetzt. Das war seine ganz persönliche Ecke. Vielleicht schämte er sich ständig wegen etwas, aber seine Eltern sahen ziemlich normal aus, ziemlich gut gekleidet, so als wohnten sie gar nicht hier und wären nur bei jemandem zu Besuch. Bengt sah aus wie eine Fundsache vom Bahnhof, die sie nicht richtig eingewickelt hatten. Er hatte oft Pflaster im Gesicht und manchmal an den Armen, einmal hatte er einen Arm in einer Schlinge getragen. Er war ungeschickt, das sah man, trotzdem war es merkwürdig, dass er sich so oft verletzte. Ich glaubte, dass er zu Hause Prügel bekam. Vielleicht schrie er deswegen, wenn er auf dem Hof stand, er schrie erst hinterher. Ich hatte ihn einmal gefragt, warum er so häufig verpflastert war, und er hatte gesagt, er sei eben ungeschickt. Sie sagen, ich bin der größte Tollpatsch der Welt.
Jetzt drehte er sich um.
»Da kommt der Krieger«, sagte er.
»Hallo, Bengt.«
»Leihst du mir dein Schwert, Tommy?«
»Kenny.«
Er zeigte auf das Katana an meinem Gürtel.
»Leihst du mir dein Schwert, Kenny?«
»Ich verleihe es nie. Das weißt du, Bengt. Ich hab’s dir schon hundertmal gesagt.«
»Darf ich es wenigstens mal in die Hand nehmen?«
»Du weißt, dass du auch das nicht darfst.«
Ich hatte ihm angeboten, ein Schwert für ihn herzustellen oder ihm zu helfen, selbst eins zu machen, aber das wollte er nicht. Sie würden es mir ja doch nicht lassen, hatte er gesagt. Sie würden es mir einfach wegnehmen. Wer, hatte ich gefragt, aber keine Antwort bekommen. Warum möchtest du ein Schwert haben, hatte ich gefragt, doch auch darauf hatte er nicht geantwortet.
»Was hast du jetzt vor, Kenny?«
»Nichts Besonderes. Ich will nur ein bisschen rumlaufen.«
»Wirst du im nächsten Frühling konfirmiert?«
»Was?«
»Wirst du im nächsten Jahr konfirmiert, Kenny? In der Kirche. Man kriegt eine eigene Bibel und haufenweise Geschenke!«
»Ich glaub, ich lass mich nicht konfirmieren.«
»Warum nicht? Das machen doch alle?«
»Ich mag keine Kirchen.«
»Ist das
Weitere Kostenlose Bücher