Drachenmonat
Stockwerk über uns öffnete sich ein Fenster, und ein alter Mann streckte sein bartstoppliges Gesicht heraus, aber vielleicht ließ auch nur die schwache Beleuchtung sein Gesicht bärtig wirken.
»Was ist denn da unten los?«, rief er. »Hat man hier denn niemals seine Ruhe?«
»Du musst jetzt gehen.« Kerstin stand schon an der Haustür.
»Ist irgendwas mit deinem kleinen Bruder?«, fragte ich. »Nein«, antwortete sie, sah mich jedoch nicht an. »Irgendwas ist. Du kannst es mir doch sagen.«
»Er ist umgezogen.«
Sie stieß es so hastig hervor, als wollte sie es so schnell wie möglich loswerden, ungefähr so, wie wenn man einen Löffel voll Lebertran schlucken muss.
»Umgezogen? Kjell ist umgezogen? Ganz allein?«
»Er ist acht«, sagte Kerstin. »Er kann nicht allein umziehen.«
»Wie umgezogen? Warum?«
Sie antwortete nicht. An diesem Abend hatte sie auf vieles nicht geantwortet. »Wohin ist er gezogen?«
»Ich muss jetzt gehen.« Kerstin schob die Tür auf. »Sonst dreht meine Mutter durch.«
»Ich komm mit rauf.«
»Nein.«
»Nur bis an die Tür«, sagte ich.
Ich wollte mich nicht aufdrängen. Aber ich wollte auch nicht, dass sie allein hinaufging. Vielleicht war ihre Mutter schon durchgedreht. Ihre Stimme hatte mehr als komisch und nuschelig geklungen.
»Seid ihr allein zu Hause?«, fragte ich. »Nur ihr beide?«
Kerstin nickte. In dem runzligen Licht des Treppenhauses wirkte ihr Gesicht fast blau und ihr helles Haar grün. Sie sah aus, als spielten wir Hauptrollen in einem Gruselfilm. Wenn man das Ganze noch mit ein bisschen unheimlicher Musik unterlegte, würde es gruselig wirken. Keine Musik mit Elvis, viele Geigen, die in einem Futteral voller Termiten steckten, vor denen sie zu fliehen versuchten. Und die Musik würde schneller und verrückter werden, je mehr wir uns Kerstins Tür näherten.
Die Tür stand schon offen.
»Wer bist du?«
Kerstins Mutter ragte auf wie ein Turm. Sie schwankte wie ein Turm und hielt sich mit einer Hand am Türpfosten fest, während sie mit der anderen auf mich zeigte.
»Wer bist du? Was willst du?«
»Er geht jetzt«, sagte Kerstin.
»Was hat er hier oben zu suchen?«
»Er hat mich nur nach oben gebracht.«
Kerstins Mutter sah aus, als wollte sie noch etwas sagen. Aber stattdessen drehte sie sich um und war plötzlich mit einem dumpfen Aufprall verschwunden.
»Ich glaub, sie ist hingefallen«, sagte Kerstin.
»Hier kannst du nicht bleiben«, sagte ich.
»Ich möchte, dass du jetzt gehst, Kenny.«
»Auf keinen Fall.«
»Geh jetzt.«
»Wo ist sie? Wo ist deine Mutter?« Kerstin antwortete nicht.
»Liegt sie auf dem Fußboden?« Ich begann auf die Tür zuzugehen. »Sie könnte sich verletzt haben.«
Jetzt bestimmten wieder meine Füße. Die Gehkrankheit. Die Füße stiegen die letzten Treppenstufen hinauf, gingen durch die Türöffnung und zwei Meter in den Flur hinein, in dem Kerstins Mutter umgefallen war.
Vorsichtig beugte ich mich über sie, aber sie bemerkte nichts. Sie schnarchte mit offenem Mund. Sie hatte keine Wunde am Kopf. Ich hatte gehört, dass Trinker weich fielen.
Ich schaute zu Kerstin, die immer noch an der Tür stand.
»Ist das jeden Abend so?«, fragte ich.
Kerstin schüttelte den Kopf, ihr ganzer Körper schien sich zu schütteln, und ihr Gesicht war weiß. Ihre Mutter gab einen lauten Schnarcher von sich. Sie war schneller eingeschlafen, als ein Weltmeister hundert Meter lief.
»Sie kann hier nicht liegen bleiben«, sagte ich.
»Sie … kommt schon wieder zu sich«, sagte Kerstin. »Dann legt sie sich ins Bett.«
Sie hat sich schon hingelegt, dachte ich. Kerstin wollte nicht erzählen, wie es wirklich war. Bestimmt kippte ihre Mutter jeden Abend um. Im Vergleich zu ihr hatte ich die beste Mutter der Welt, als würde meine Mutter jeden Tag Kotelett braten und Kuchen backen.
»Dann sollen wir sie einfach hegen lassen?«, fragte ich.
»Ja. Du musst jetzt nach Hause gehen, Kenny.«
»Ich kann dich hier nicht alleinlassen.«
»Macht sich deine Mutter keine Sorgen, wo du bist?«
»Pfeif drauf«, sagte ich und schaute wieder auf Kerstins Mutter hinunter. Aus ihrem Mund hing ein Speichelfaden. Der bewegte sich, wenn sie atmete, riss aber nicht ab.
»Wann wird sie wach?«
»Ich weiß es nicht. Irgendwann heute Nacht.«
»Was macht sie dann?«
»Geht ins Bett, das hab ich doch schon gesagt.«
»Will sie dann nicht mit dir reden?«
»Mit mir? Mitten in der Nacht? Dann? Nein.«
»Ist das Jugendamt hier
Weitere Kostenlose Bücher