Drachenmonat
wollte.
»Ich muss zur Toilette«, sagte ich.
»Zehn Meter den Flur endang«, sagte die Sekretärin.
Ich ging in den Flur, aber nicht nur die zehn Meter. Ich lief die Treppen hinunter. Auf dem Weg zum Ausgang begegnete mir niemand. Für heute war die Schule aus. Ich rannte über den Parkplatz und hinunter zum Fluss. Ich rannte durch die Straßen.
Ich lief über den Hof. Hinter dem Bretterzaun bellte der Hund.
Ich lief die Treppen hinauf.
Kerstin öffnete schon nach dem zweiten Klopfen. »Wir hauen jetzt ab«, sagte ich. »Kenny!? Was ist los?«
Ich kriegte kaum noch Luft. Ich musste wie ein Weltmeister gerannt sein.
»Wir haben keine Zeit«, keuchte ich. »Wir müssen abhauen.«
»Abhauen? Was meinst du damit?«
»Wir müssen weg, türmen. Jetzt! Ich lauf nach Hause und packe. In einer halben Stunde treffen wir uns an dem großen Stein am Fluss.«
»Kenny!«
Aber ich war schon wieder auf dem Weg die Treppen hinunter.
Die Wohnung war verlassen wie ein leeres Meer. Es waren dieselben Zimmer, dieselben Wände, Fußböden, Decken und Möbel, aber sie war leer. Verlassen. Mutter hatte sie verlassen, und jetzt würde ich dasselbe tun. In wenigen Minuten würde es sie nicht mehr geben, jedenfalls nicht für uns. Wir würden nie mehr hierher zurückkehren. Ich stand in meinem Zimmer und sah mich um. Im Augenblick konnte ich mich nicht daran erinnern, wie viele Jahre ich hier gewohnt hatte. Kurz bevor ich eingeschult wurde, waren wir aus einer kleineren Stadt hierhergezogen. Vater hatte die Sessel hinaufgetragen und Rückenschmerzen bekommen. Mutter hatte über etwas gelacht, als wir die Sachen hinauftrugen. Das Lachen hatte in den leeren Zimmern widergehallt wie ein Echo. Damals war Mutter fast immer fröhlich gewesen. Am ersten Tag hatte sie mich zur Schule gebracht und wieder abgeholt.
Ich hörte Geräusche aus dem Hausflur. Jemand kam die Treppe heraufgestürmt wie ein Feind. Wahrscheinlich würde die Truppe vom Jugendamt bald hinterhergestürzt kommen, mit Stricken, Netz und Zwangsjacke.
Dann war es wieder still im Treppenhaus. Ich sah mich um. Was sollte ich mitnehmen? Welche Kleidung? Welche Ausrüstung? Welche Waffen? Ohne mein Katana und mein Wakizashi konnte ich nicht weggehen. Sie waren das Wichtigste.
Der Rucksack lag auf dem untersten Schrankbord. Ich nahm ihn heraus und packte ein paar Kleidungsstücke aus der Kommode hinein. Ich holte die Zahnbürste aus dem Bad. Die Zahnpastatube war weg, Mutter hatte sie unnötigerweise mit ins Irrenhaus genommen. Ich glaubte nicht, dass die Idioten Zahnpasta haben durften, sie könnten sie ja aufessen und die Tube gleich dazu.
Im Badezimmerschrank fand ich eine Seifenschachtel und wollte das Stück Seife hineinlegen, das auf dem Waschbecken lag, es rutschte mir aber aus den Händen, landete auf dem Boden und hüpfte davon wie ein Frosch. Passenderweise war sie grün. Ich erwischte sie auf der Türschwelle und presste sie in die Schachtel.
In der Blechdose in der Küche war noch etwas Geld. Mutter nannte die Dose unsere Haushaltskasse. Wenn wir am Nachmittag noch Geld übrig hatten, steckten wir es in die Blechdose, die vor langer Zeit Kakao enthalten hatte. Sie roch immer noch danach, und das Geld roch nach Schokolade. Man hätte die Kronen in Goldfolie einwickeln können.
Auf der Schwelle drehte ich mich ein letztes Mal um. Plötzlich hatte ich das Gefühl, als hätte ich nie hier gewohnt. Als hätte hier jemand anders ein anderes Leben geführt. Tommys Leben. Tommy war hier eingezogen, und Kenny zog aus. Nein. Haute ab.
Unten auf dem Hof stand Frau Sandberg bei der Teppichstange und klopfte wie üblich Läufer aus. Vor ihr lag ein ganzer Stapel Läufer. Die konnten nicht alle ihr gehören, vielleicht arbeitete sie für andere Leute. Sie würde doch wohl nicht jeden Tag ihre eigenen Läufer rausschleppen und sie ausklopfen. Wenn es so wäre, gehörte sie jeden Tag ins Irrenhaus. Dann wäre sie ein schlimmerer Fall als Mutter.
Ich wollte sie nicht ansehen und ging schnell an ihr vorbei.
»Tommy!«
Ich schaute auf.
»Tommy, komm mal her!«
Ich blieb stehen.
Sie Heß den Teppichklopfer auf den Asphalt fallen und kam wie eine Ente auf mich zugewatschelt. »Wie geht es deiner Mutter?«
»Gut.«
»Gut? Sie sah aber gar nicht so aus, als würde es ihr gut gehen.«
»Es geht ihr gut.«
»Aha. Wo ist sie?«
»Bei Großmutter.«
»Bei ihrer Mutter? Deiner Großmutter?«
Nein, bei deiner, hätte ich am liebsten geantwortet, aber das wäre dumm und
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