Drachenmonat
Irrenhaus.
Aber Mutter gehörte nicht dorthin. Plötzlich sah ich sie da in dem weißen Bett in dem weißen Zimmer liegen. Früher oder später würde sie aufwachen, wieder zu sich kommen und nach mir fragen. Dann würde ich vielleicht nicht da sein. Aber ich würde zurückkommen.
Wir gingen an der Kirche vorbei. Auch sie war weiß. Weiß hatte ich noch nie gemocht. Es ist die Farbe des Todes. Auf der Beerdigung war Vaters Haar weiß wie von der Sonne gebleicht gewesen, und Mutter hatte gebrüllt wie eine Kuh, als ich mich von ihm verabschiedete. Das Echo von Mutters Brüllen hatte zwischen den weißen Wänden der Kirche widergehallt. Ich wünschte, sie wäre still gewesen, totenstill. Danach bin ich nie wieder in die Kirche gegangen. Ich hatte keinen Grund. Niemand, den ich kannte, war gestorben.
Und es sollte auch niemand mehr sterben.
Jetzt hatten wir den Stadtrand erreicht. Ich sah die Rückseite des Schildes, auf dem stand, dass an dieser Stelle die Stadt begann. Oder endete. Einige Hundert Meter entfernt lag eine Tankstelle, und noch einige Hundert Meter weiter teilte sich die Straße nach rechts und links. Darauf gingen wir zu, und dort mussten wir uns entscheiden: rechts oder links?
Kerstin blieb beim Ortsschild stehen. Sie sah es an, als wäre es ein Tor oder so was. Als müssten wir Zoll zahlen, bevor wir das Schloss verlassen durften.
Und als ich »das Schloss« dachte, wusste ich plötzlich, wohin wir unterwegs waren.
Hinter der Tankstelle gab es ein Motel mit einem dazugehörigen Cafe. Hier war ich oft mit dem Fahrrad vorbeigefahren. Manchmal parkten Autos vor den einzelnen kleinen Hütten.
Jetzt sah ich nur ein Auto. Es war ein Amerikaner, der größer war als die Motelhütte. Der Autobesitzer hätte in dem Auto wohnen und sich das Geld für das Motel sparen können. Als wir vorbeigingen, sah ich, dass es ein Buick war. Mit amerikanischen Autos kannte ich mich nicht besonders gut aus, aber der Buick zählte zu den feineren, zusammen mit dem Cadillac. Vater hatte mir erzählt, er habe einen Ford Thunderbird besessen, bevor ich geboren wurde. Ein Foto hatte er nicht davon gehabt, aber ich hatte einen Thunderbird auf einem Bild gesehen. Donnervogel. Das war ein guter Name. Er sah wirklich fast wie ein großer Vogel aus, der nur mit den Schwanzfedern fliegen konnte, und zwar schnell. Im vergangenen Sommer hatte ich geträumt, dass Vater und ich in so einem Donnervogel über die Welt hinwegflogen.
»Ich hab Hunger«, sagte ich. »Wir müssen was essen. Lass uns ins Cafe gehen.«
»Dann holen sie uns vielleicht ein«, sagte Kerstin.
»Das Risiko müssen wir eingehen.«
»Meine Mutter ist inzwischen bestimmt schon durchgedreht.«
»War sie das nicht schon vorher?«
»Sie ist nicht verrückt«, sagte Kerstin. »Das war sie nie.«
»Von Schnaps kann man auch verrückt werden«, sagte ich. »Anfangs merkt man es nicht, aber dann wird man verrückt. Er wirkt wie das Gift einer Klapperschlange.«
»Vielleicht geht sie zur Polizei«, sagte Kerstin.
»Was hast du eigendich auf den Zettel geschrieben?«
»Dass ich wegfahre und erst wieder nach Hause komme, wenn sie mit dem Saufen aufhört.«
»Warum sollte sie damit zur Polizei gehen?«
Kerstin antwortete nicht.
»Warum sollte sie zur Polizei gehen?«, wiederholte ich.
»Weil sie nicht aufhören kann zu trinken, und das bedeutet, dass ich nicht von selbst nach Hause komme, und deswegen muss mich die Polizei suchen.«
»Sie hört bestimmt auf«, sagte ich. »Und die Polizei hat was anderes zu tun, als uns zu suchen.«
»Wer soll denn dann nach uns suchen?«
»Niemand, hoffe ich.«
»Das würde ja bedeuten, dass wir ganz vergessen sind«, sagte Kerstin. Sie sah traurig aus. »Dann gibt es überhaupt niemanden mehr, der sich um uns kümmert.«
»Lieber das als das Jugendamt«, sagte ich. »Mir ist es jedenfalls egal, ob sich jemand um mich kümmert.«
»Na ja, in der Schule vermissen sie uns sofort. Dein Direktor sucht dich wahrscheinlich schon. Du bist ja aus seinem Zimmer abgehauen.«
»Es war das Zimmer der Sekretärin.«
»Du weißt, was ich meine, Kenny.«
Ich wusste, was sie meinte, wollte aber nicht mehr darüber reden. Ich wollte nicht an den Direktor, seine Sekretärin und seine Schule denken. Vielleicht war er ein netter Mensch, aber ich brauchte seine Nettigkeit nicht. Die konnte mir nicht helfen. Er mochte wer weiß wie nett sein, aber ich würde trotzdem in einer Pflegefamilie landen.
»Nein, wir gehen rein und gucken, ob
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