Drachenmonat
unhöflich gewesen. Frau Sandberg konnte ja nichts dafür, dass sie war, wie sie war, und sagte, was sie sagte.
»Sie ist bei Großmutter und ruht sich aus, und jetzt fahr ich zu ihr«, antwortete ich.
»Aber …«, begann Frau Sandberg, doch ich hörte nichts mehr, weil ich wegging.
Kerstin wartete bei dem großen Stein am Fluss. Sie hatte einen ähnlichen Rucksack wie ich. Es war eine Art Armeemodell, aber ich wusste nicht, von welcher Armee.
Sie lehnte an dem Stein und drehte sich um, als sie meine Schritte hörte.
»Das ist die reinste Idiotie«, sagte sie und machte ein paar Schritte.
»Keine Idiotenwitze mehr, ich hab’s versprochen«, sagte ich.
»Das war nicht witzig gemeint«, sagte sie.
»Mir ist auch nicht nach Witzen zu Mute.«
Sie guckte auf meinen Rucksack. »Was ist da drin?«
»Kleidung.«
»Willst du lange wegbleiben?« Ich antwortete nicht. »Willst du wirklich türmen?«
»Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll«, antwortete ich. »Was hast du in deinem Rucksack?«
»Was meinst du wohl? Torten?«
»Nein. Die würden kaputtgehen.«
»Kenny! Was ist passiert?«
»Meine Mutter ist im Irrenhaus.«
»Ist das wahr? Im Irrenhaus?«
»Ja, sie hat noch weniger Kraft als früher. Ich war bei ihr und hab mit ihr gesprochen. Versucht, mit ihr zu sprechen.«
»Sie wird wieder mit dir reden, wenn es ihr besser geht.«
»Es wird ihr nie mehr besser gehen, in zehn Jahren nicht. Aber dann könnte ich sowieso nicht mit ihr reden.«
»Warum nicht?«
»Weil sie mich wegschicken, natürlich. Ich komme zu Pflegeeltern.«
»Woher weißt du das?«
»Was bleibt denn sonst? Großmutter kann sich nicht um mich kümmern, und andere Verwandte haben wir nicht. Glaubst du, es gibt eine andere Lösung? Höchstens ein Kinderheim. Ich habe den Direktor gefragt, ob ich allein zu Hause wohnen darf, aber das ist nicht erlaubt.«
»Den Direktor? Warum hast du den denn gefragt?«
»Das ist eine lange Geschichte. Jedenfalls müssen wir entweder abhauen, oder ich lande bei einer Pflegefamilie. Und du auch.«
Kerstin zuckte zusammen, sagte jedoch nichts.
»Das weißt du selber«, fuhr ich fort. »In einigen Tagen kommt jemand vom Jugendamt und holt dich ab.«
»Ich muss meiner Mutter helfen«, sagte sie.
»Sie wird nicht da sein«, sagte ich. »Kapierst du das nicht? Oder sie ist da, aber du darfst trotzdem nicht bleiben.«
»Ich kann zu Großmutter fahren.«
»Willst du das denn?« Sie antwortete nicht.
»Glaubst du, ich verstehe das nicht?«, sagte ich. »Deine Großmutter will dich nicht haben, nur deinen Bruder.«
Kerstin schwieg. Was sollte sie auch dazu sagen. Vielleicht hätte ich den Mund halten sollen. Aber ich glaubte, dass es so war. Nicht alle Erwachsenen hatten Kinder gern, manchmal nicht einmal ihre eigenen.
»Du kannst nicht hierbleiben«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Aber die Schule?«
»Scheiß auf die Schule«, sagte ich. »Was meinst du, wie viel Spaß es macht, in die Schule zu gehen, wenn man bei Pflegeeltern lebt?«
»Immer diese schlimmen Wörter.«
»Ich werde sie mir abgewöhnen.«
»Du weißt selber, dass man zur Schule gehen muss, Kenny«, sagte sie. »Wer sagt das?«
»Das Gesetz oder wer das bestimmt, ich glaube, die Regierung. Der König.«
»Der König bestimmt nichts«, sagte ich. »Es ist lange her, dass der zu bestimmen hatte.«
»Woher weißt du das?«
»Das hab ich natürlich gelesen.«
»Und wie hast du das geschafft?«
»Wie - geschafft … was meinst du damit? Ich bin in die Bibliothek gegangen und habe ein Buch über Könige gelesen.«
»Siehst du, und das konntest du nur, weil du zur Schule gegangen bist! Sonst hättest du ja nicht lesen gelernt.«
»Aber jetzt kann ich es, oder? Also brauche ich nicht mehr in die Schule zu gehen.«
Kerstin verdrehte die Augen, wie um zu zeigen, dass sie es für sinnlos hielt, weiter mit mir über die Schule zu reden. Aber dafür hatten wir ja später noch Zeit. Jetzt kam es darauf an, schnell von hier zu verschwinden. Jede Minute konnte der Gefangenentransport des Jugendamtes bei der Konditorei um die Ecke biegen, und dann waren wir dran.
Zwei alte Männer gingen auf der Straße vorbei und guckten misstrauisch in unsere Richtung, als wüssten sie schon, dass wir planten, die Stadt zu verlassen.
Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, kam jetzt aber wieder hervor und blendete uns.
»Kommst du mit?«, fragte ich.
»Wir haben doch kein Geld«, sagte Kerstin. »Wir haben überhaupt nichts.«
»Ich
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