Drachenmonat
zu tun gab. Später kam man nach Hause, musste kochen, sich unterhalten, Radio hören, die Zeitung lesen oder ein Buch, Kaffee oder Tee kochen und den Abendbrottisch decken, abwaschen und sich wieder selber waschen, den Schlafanzug anziehen und ins Bett gehen, wenn es Zeit war, das Licht auszuknipsen und zu schlafen. Und am nächsten Morgen fing alles wieder von vom an. Das war das Leben. Dafür hatte Mutter keine Kraft mehr.
Ich sah mich im Saal um. Warum waren die anderen Betten leer? Sollte ich mir vielleicht eins aussuchen? Sollte ich jetzt auch hier wohnen? Im Irrenhaus aufwachsen. Der beste Start ins Leben, den man sich denken kann.
Ich sah Mutter wieder an. An einem einzigen Tag war sie klein wie ein Vogel geworden. Sie war kein Zelt mehr im Bett. Kein Elefant. Sie war fast so klein, dass sie zum Fenster hinausfliegen könnte, zwischen den Gitterstäben hindurch. Hinauf in den Himmel.
Und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.
Das Zimmer des Arztes war genauso weiß wie Mutters Saal und fast genauso groß.
»Deine Mutter braucht viel Ruhe«, sagte er.
Ich nickte. Ich dachte, je mehr ich nickte und je weniger ich sagte, umso schneller würde ich von hier wegkommen.
»Verstehst du?«, fragte der Arzt.
Ich nickte wieder.
»Ich weiß nicht, wie lange sie bei uns bleiben muss«, fuhr er fort. Ich nickte wieder.
Jetzt sah der Arzt den Direktor an, der neben mir auf einem der Holzstühle saß. Vielleicht sollte man in diesem Zimmer nicht allzu bequem sitzen.
Draußen im Park gingen weiß gekleidete Leute spazieren. Es sah aus, als trügen sie Schlafanzüge. Nicht einmal das konnte Mutter, herumspazieren in einem Schlafanzug, als sei sie eine Schlafwandlerin.
»Wir werden das Problem lösen«, sagte der Direktor.
»Welches Problem?«, fragte ich.
»Wo du in dieser Zeit wohnen wirst, Kenny.«
Ich antwortete nicht. Ich wollte nichts hören. Plötzlich wünschte ich, ich wäre taub. Nicht blind, aber taub. Ich konnte mich taub stellen. Ich hörte, dass der Direktor wieder etwas sagte oder vielleicht auch der Arzt, aber ich war taub.
Auf dem Rückweg in die Stadt hörte ich die Stimme des Direktors. Plötzlich verstand ich ihn wieder. »Wir haben mit deiner Großmutter gesprochen«, sagte er. »Sie kann nicht gehen«, sagte ich. »Nein.«
»Ich will nicht zu ihr«, sagte ich.
Der Direktor schwieg.
»Ich komme allein zurecht«, sagte ich.
»Das geht nicht«, sagte der Direktor und hielt vor einer roten Ampel. Eine Schulklasse überquerte den Fußgängerüberweg, zweite oder dritte Klasse. Sie hatten wohl einen Ausflug gemacht. Es war spät. Einige Mädchen winkten, aber ich winkte nicht zurück.
Der Direktor fuhr wieder an. Er hatte nicht gesagt, wohin wir unterwegs waren.
»Warum geht das nicht?«, fragte ich.
»Was?«
»Warum kann ich nicht allein zu Hause bleiben? Warum geht das nicht? Ich kann alles, was zu tun ist. Ich kann waschen und abwaschen. Gestern hab ich Lammkoteletts gebraten.«
Der Direktor schien zu lächeln, aber vielleicht juckte ihn auch nur die Nase. Die war groß und ein wenig gebogen. In einem anderen Leben hätte er Seeräuber sein können.
»Warum kann ich nicht zu Hause bleiben, bis Mutter wiederkommt?«
»Es geht nicht, Kenny. Das ist einfach nicht erlaubt. Ein Kind darf nicht allein wohnen.«
»Das kann ich wohl«, sagte ich. »Es geht nicht«, wiederholte der Direktor. »Wo soll ich denn hin?«
»Daran arbeiten wir gerade.«
»Pflegeeltern? Soll ich zu Pflegeeltern? Oder in ein verdammtes Kinderheim?«
Der Direktor hatte keine Antwort, oder er hatte eine, wollte sie mir aber nicht geben, da ich sie schon selbst ausgesprochen hatte.
»Meine Mutter kann keine Lammkoteletts braten«, sagte ich. »Sie hatte noch nie ein Lammkotelett gesehen.«
Der Direktor parkte hinter dem großen Eingang, und ich folgte ihm hinauf zu seinem Zimmer.
»Ich muss nur mal eben telefonieren«, sagte er, ging in sein Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
Seine Sekretärin war noch da. Sie lächelte mir zu und sah aus wie eine Schauspielerin. Sie war gar keine richtige Sekretärin, sondern spielte nur die Rolle einer Sekretärin. Alles schien plötzlich unwirklich geworden zu sein. Was geschah, das passierte gar nicht. Es war kein Traum, es war ein Film. Nichts hatte mit der Wirklichkeit zu tun. Alle waren jemand anderes. Mutter lag nicht im Irrenhaus, und ich war nicht auf dem Weg nach Norrland oder Schonen oder wohin sie mich schicken wollten.
Ich konnte machen, was ich
Weitere Kostenlose Bücher