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Drachenmonat

Drachenmonat

Titel: Drachenmonat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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Wieder die Gehkrankheit.
    Der Direktor schloss die Tür hinter uns. Im Flur war es still, und er wirkte länger als sonst.
    »Was ist passiert?«, fragte ich.
    »Es geht um deine Mutter«, sagte der Direktor.
    »Was ist mit ihr?«
    Er antwortete nicht direkt.
    »Was ist mit ihr?« Ich hörte meine Stimme, aber ich erkannte sie nicht wieder. Es war die Stimme eines anderen. »Ist sie tot?«
    Der Direktor zuckte zusammen, als hätte ich den schlimmsten Fluch ausgesprochen. »Nein«, sagte er, »sie ist nicht tot.«
    »Was ist denn?« Er schien tief Luft zu holen.
    »Sie ist eingeliefert worden«, sagte er nach dem Luftholen. »Eingeliefert? Wie eingeliefert? Ins Krankenhaus? Ist sie krank?«
    »Ja.«
    »Was ist das für eine Krankheit?«
    »Es ist…«
    »Das Irrenhaus«, unterbrach ich ihn. »Sie ist im Irrenhaus, oder?«
     
    Meine Mutter war im Irrenhaus. Als ich vor dem Eingang stand, war ich froh, dass ich Kerstin versprochen hatte, keine Idiotenwitze mehr zu erzählen. Ich kannte wer weiß wie viele, aber die wollte ich vergessen. Unter einem Baum ein Stück vom Eingang entfernt stand ein alter Mann in einem Schlafanzug oder so was Ähnlichem und glotzte mich an. Es könnte Herings-Kalle sein, der sich einbildete, er sei ein Hering, und deswegen eingeliefert worden war. Vielleicht glaubte der Alte auch, er sei eine Katze.
    Im Auto auf dem Weg hierher hatte der Direktor erzählt, was passiert war. Mutter war in den Hof gegangen und hatte Frau Sandberg, die gerade Läufer ausklopfte, gebeten, ihr ein Taxi oder so was zu bestellen, das sie ins Irrenhaus bringen sollte. Wir hatten kein Telefon und Frau Sandberg auch nicht, aber sie hatte jemanden gebeten, anzurufen, dann war eine Droschke gekommen, und nun lag Mutter in einem Saal oberhalb des Eingangs.
    Ich schaute hinauf. Das Haus schien bis in den Himmel zu reichen.
    »Du darfst es nicht Irrenhaus nennen, Kenny«, hatte der Direktor unterwegs gesagt. »Warum nicht?«
    »Es sind viele verschiedenartige Menschen, die in so einem Krankenhaus gepflegt werden.«
    »Viele verschiedenartige Idioten.«
    »Ist deine Mutter ein Idiot?«
    »Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht einmal, ob sie es selber weiß.«
    Das Haus türmte sich hinter den Bäumen auf und hatte tatsächlich einige Türme. Es lag tief drinnen im Park, der rundhemm von Mauern umgeben war. Fast erwartete ich, bewaffnete Wachen zu sehen. Ich dachte an die Gefangenenlager im Zweiten Weltkrieg. Warum war Mutter freiwillig hierhergefahren? Warum hatte sie nicht erst mit mir gesprochen?
     
    Der Saal war ganz weiß, die Wände, der Fußboden, die Decke, die Betten, das Bettzeug. Es gab mehrere Betten, aber sie waren leer, Mutter lag allein im Saal. Ihr Bett stand an einem der hohen Fenster. Es waren die höchsten Fenster, die ich je gesehen hatte. Wer hinausspringen wollte, brauchte sich nicht zusammenzukrümmen. Aber man konnte nicht hinausspringen. Vor den Fenstern waren Gitter. Auch sie waren weiß. Ich dachte, je größer der Saal, umso kränker war die betreffende Person, die hier lag. Die kleineren Säle sind für die Gesünderen. Die, die wieder gesund werden.
    Ich ging zu Mutters Bett. Sie bewegte den Kopf, als wäre sie blind und könne nur noch hören.
    Sie sah mich wie eine Blinde an.
    »Ich bin’s, Kenny.«
    Jetzt bewegte sie die Lippen.
    Der Direktor wartete zusammen mit einer Schwester und einem Arzt vor der Tür. Sie wollten später mit mir sprechen, hatten sie gesagt. Aber ich wollte nicht, ich wollte nur mit Mutter sprechen.
    »Was ist los?«, fragte ich. »Wie geht es dir? Warum bist du hierhergefahren?«
    Sie schien etwas zu sagen, jedenfalls bewegten sich ihre Lippen, aber sie brachte keinen Laut hervor.
    Ich beugte mich über sie.
    Sie sagte wieder etwas, das ich nicht verstehen konnte. »Ich versteh dich nicht«, sagte ich. »Was hast du gesagt?«
    »Verzeih mir«, sagte sie. Das klang so schwach, dass es fast wie das Ausatmen eines kleinen Vogels war. Sie wiederholte es. »Verzeih mir.«
    »Was soll ich verzeihen? Du brauchst doch nicht um Entschuldigung zu bitten.«
    »Ich habe keine Kraft.« Ihre Stimme war immer noch schwach. »Ich habe keine Kraft mehr, Kenny. Verzeih mir.«
    »Keine Kraft«, sagte ich, »wozu keine Kraft?«
    Aber ich wusste, was sie meinte. Ich verstand es. Sie hatte keine Kraft mehr zu leben. Und Leben bedeutete, morgens aufzustehen, aufs Klo zu gehen, sich zu waschen und anzuziehen, zu frühstücken und vielleicht zu einer Arbeitsstelle zu gehen, wo es eine Menge

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