Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
Loj.
»Verschwinde! Zurück mit dir ins Dickicht, du wilde Kreatur! Geh, fang deine Mäuse …«
Das brachte das Fass zum Überlaufen.
Loj sprang auf, in einem einzigen Augenblick wechselte ihre Körperhaltung von friedlicher Entspanntheit zu von unvorstellbarer Energie strotzender Kampfbereitschaft. Sie würde ihr die Augen auskratzen, den Hals aufreißen, das Deck in Blut tränken!
Noch in der Luft führte sie ihren Schlag aus – den berühmten Schlag ihres Clans: die unsichtbare Kralle. Nicht einmal Torn war es gelungen, ihm auszuweichen, dabei hatte sie ihn gegen ihn nur mit halber Kraft geführt, ihn nur angedeutet.
Das Mädchen versuchte, sich zu verteidigen – aber irgendetwas störte sie dabei; die Beschwörungsformel, die bereits in ihren Fingerspitzen hing, löste sich nicht; und während Loj auf den zarten Körper ihrer Gegnerin stürzte, begriff sie voller Freude, dass ihr Angriff gelungen war.
Aber … wo waren die Wunden? Wo waren die tödlichen Spuren vom Schlag der vier unsichtbaren magischen Krallen? Krallen, die sie tief in den Körper des Mädchens hineingestoßen
hatte, die ihr das Herz herausreißen und ihre Wirbelsäule zerbrechen sollten.
Auf Tel liegend, schlug Loj noch einmal zu. Aus nächster Nähe, und dieses Mal ließ sie alle Energiereserven in den Hieb, die ebenfalls unsichtbare Katzenpfote, fließen. Um das Herz der Gegnerin zusammenzupressen, damit es für immer stehen blieb …
Aber Tel hatte offensichtlich nicht die Absicht zu sterben.
Stattdessen hob sie den Arm und drückte Loj ihre Handfläche ins Gesicht.
Der Raum um die flache Handfläche gellte vor Kraft. Das war … das war doch jener Schlag des Geheimen Clans … von dem ihre Großmutter erzählt hatte …
Loj machte sich ihrerseits bereit zu sterben.
Aber nein. Auch Tels magische Formel blieb auf halbem Weg stecken. Als ob eine Kugel den Lauf verlassen hätte und nun in der Luft hinge. Als ob eine ungeheure Kraft, die Tels Kunstfertigkeit und Lojs Meisterschaft geradezu jämmerlich aussehen ließ, mit einem einzigen leichten Lufthauch alle Magie zum Stillstand gebracht hätte …
Loj hatte früher schon einmal von so etwas gehört!
Aber sie hatte keine Zeit nachzudenken; das Gesicht dieser verhassten Kröte war ganz nah, und es war Loj egal, dass die Magie ihr nicht gehorchte, sie würde diese Schlampe jetzt … ganz ohne Magie … wie bei einer ganz gewöhnlichen Prügelei unter ihresgleichen …
»Ahhh!«, kreischte Loj und krallte sich in die kurzen Haare des Mädchens.
Die andere blieb ihr nichts schuldig; sie schlug auf Lojs Gesicht ein, kratzte nicht schlechter als eine echte Katze und versuchte dabei, die Augen zu erwischen. Die Frau und das Mädchen waren ineinander verkeilt und wälzten sich
in einem schreienden, kreischenden, zischenden Knäuel übers Deck. Beide waren sie rothaarig, Loj war zu gut trainiert für ihr Alter, und das Mädchen war zu stark für seines, und so wirkten sie jetzt wie siamesische Zwillinge bei dem verzweifelten Versuch, voneinander loszukommen.
»Ich reiß dir deine Fransen raus!«, schrie Loj wie im Rausch.
»Verschlissene Katze!«, gellte Tel, während sie sich die Haare der anderen um die Hand wickelte. »Au, au, das tut weh …«
Jetzt prügelte Loj auf das Gesicht des Mädchens ein, versuchte ihm die Nase blutig zu hauen. Vielleicht bist du eine mächtige Magierin, Kleine, aber wenn es um eine ganz normale Schlägerei geht … Au!
Mit gellenden Schreien lösten sie sich voneinander und stürzten jede in eine andere Richtung, als ein Strahl kalten Flusswassers auf ihre Körper niederging.
»Es reicht!«
Der Länge nach auf dem Deck ausgestreckt und auf ihre zerschrammten Ellbogen gestützt, hielt Loj entsetzt den Blick auf Viktor gerichtet.
Der Mann stand jetzt zwischen ihnen. Er hatte die Arme nach oben geworfen, und die Kraft, eine unfassbare, zornige Kraft brodelte am Himmel. Er war jetzt die Spitze eines Speers, der Schacht einer Windhose – aus ihm schlug eine solche Energie, dass Loj, die niemals irgendetwas fürchtete, sich nichts mehr wünschte, als die Augen zusammenzukneifen. Nein, ihre eigene Magie war nicht erloschen, aber für so etwas würde niemals die Kraft eines Einzelnen ausreichen … ganz gleich, um wen es sich handelte. Ihre Katzenmagie suchte schmählich das Weite, zog den Schwanz ein, versteckte sich im tiefsten Inneren ihrer Herrin. Das
Wasser rund um den Kahn kochte, das Boot bebte, die unerwarteten, heftigen Windstöße hätten jeden
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