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Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow

Titel: Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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zupfte ein Blatt von der Wange des Mädchens.
    »Wie bist du darauf gekommen?«, fragte Tel.
    »Du hast doch gesagt, wenn was passiert, soll ich mich auf den Boden werfen«, sagte Viktor ungerührt. »Genau das hab ich getan.«
    Tel kicherte wieder los, diesmal leiser. Viktor sah sich um.
    Schönes Teufelswerk. Sie befanden sich in einem Wald, aber nicht in so einem aufgeforsteten, schmuddeligen Wäldchen am Moskauer Stadtrand, sondern in einem richtigen Wald, der an ein Gemälde Schischkins 4 erinnerte. Den Hügel, den sie runtergerutscht waren, schien es tatsächlich zu geben, aber von dem schmalen Pfad war weit und breit nichts mehr
zu sehen. Am Himmel, der eben noch strahlend blau gewesen war, zogen dunkle Wolken auf.
    Aber das Wichtigste war – rundherum herrschte Herbst. Wahrscheinlich noch nicht sehr weit fortgeschritten, denn es war noch nicht sonderlich kalt, aber dennoch eindeutig Herbst. Die Bäume hatten schon fast alle ihre Blätter verloren, nur in den Wipfeln war noch ein Rest von Braun und Gelb übrig geblieben.
    Und es war still, vollkommen still. So wie es in der Nähe von Stränden oder in irgendwelchen öffentlichen Freizeitanlagen niemals der Fall ist. Immer findet sich ein Trottel, der glaubt, dass in ihm ein Talent zum Sänger schlummert, oder eine Gruppe junger Leute, die den Kassettenrekorder auf volle Laufstärke stellen …
    »Wo sind wir, Tel?«, wollte Viktor wissen. Es fiel ihm gar nicht ein, danach zu fragen, wo ihre seltsamen Verfolger geblieben waren. Er spürte einfach, dass sie nicht in der Nähe waren.
    »Zu Hause. Bei mir.« Tel fuhr sich mit der Handfläche übers Gesicht und wischte das restliche Blut weg. Eine Wunde gab es nicht.
    »Bei dir zu Hause?« Viktor sprach die Worte langsam, Silbe für Silbe. Nur so konnte er die klirrende Leere, die sein Bewusstsein erfasst hatte, ausfüllen. Er konnte an nichts denken. Er glaubte es nicht. Er konnte es nicht glauben.
    »Ja. Du hast doch versprochen, mich nach Hause zu begleiten.«
    »Und … wo ist es jetzt, dein Haus? In Serebrjany Bor?«
    »Nein.« Tel umfasste fröstelnd ihre schmalen Schultern. »Viel weiter weg.«
    »Aha. Parallelwelten.« Viktor versuchte, hämisch aufzulachen, aber es gelang ihm nicht gut.

    »Nenn es, wie du willst.« Tel versuchte vergeblich, sich eine dreckstarre Strähne aus dem Gesicht zu streichen. »Lass uns gehen. Nicht weit von hier ist ein kleiner See. Da können wir uns waschen.«
    »Bei diesen Temperaturen?« Viktor war entsetzt.
    »Sonst erfrieren wir«, sagte Tel belehrend. Jeden Moment krallte sich die Kälte mit unsichtbaren Klauen fester in ihre nasse Kleidung.
    »Komm jetzt, los.« Tel zog Viktor an der Hand. Und wieder begannen sie zu laufen.
    Der Herbstwald ist vielstimmig und weich. Er umhüllt dich, du verlierst dich in ihm, verschmilzt mit ihm, und schon gehst du nicht mehr, sondern du fliegst, ohne deine Beine zu spüren. So erging es Viktor nicht selten – sogar in den dürftigen, verschmutzten Wäldern der heimatlichen Moskauer Vororte. Hier drang der Wald in ihn ein, vom ersten Moment, vom ersten Atemzug an. Alles kam ihm seltsam bekannt vor, obwohl er viele Bäume nicht bestimmen konnte. Hier zum Beispiel – die Rinde war die einer Hagenbuche, die Blätter aber eindeutig vom Ahorn. Oder dieser hier – sah aus wie eine Erle, aber seine langen silbrig-goldenen Kätzchen an den Zweigen passten zu keinem ihm bekannten Baum.
    Der Wald war ihm fremd … und auch wieder nicht. Viktor hatte das Gefühl, als würde er nach endlos langer Trennung einen Bruder wiedertreffen.
    Viktor und Tel rannten über den weichen Teppich aus Blättern, schlüpften durch entlaubtes Gebüsch, vorbei an Waldriesen, die vor langer Zeit umgestürzt waren und nun Platz machten für Licht, Luft und junges Grün. So ist es immer gewesen, das ist kein Grund zu trauern. Der Tod ist eine Waffe des Lebens – nichts weiter.

    Bin ich betrunken oder kommt das von der Kälte?, ging es Viktor durch den Kopf. Sein Bewusstsein schwamm. Es erlosch, während es mit Tausenden von Waldstimmen verschmolz, die ihm von allen Seiten ihre Lieder zuraunten. Er konnte ihre Worte nicht verstehen … bis aus dem Nichts plötzlich das Gesicht von Großmutter Vera vor ihm erschien. Ja! Ja, genau so waren sie durch den entlaubten Novemberwald gelaufen, den durchsichtigen, klingenden Wald, der schon bereit war, das Leichenhemd aus Schnee überzustreifen, sie waren gelaufen, nachdem Viktor in eine Schlucht gestürzt war. Der Großmutter

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