Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
war das silberne Medaillon, das sie immer trug, in die Schlucht gefallen. Und er hatte sich sogleich mit kindlich sorgloser Hilfsbereitschaft darangemacht, die glitschigen Abhänge hinunterzuklettern …
Seltsam. Als ob sich alles wiederholte. Nur in ausgereifter Form, gewissermaßen eine Umdrehung weiter auf der Spirale der Herausforderungen. Auch die Großmutter hatte ihn damals als Erstes zum Baden an einen See geschleppt. Er hatte gekreischt vor Kälte und Begeisterung, während er im eiskalten Wasser umherplanschte. Und die Großmutter hatte inzwischen am Ufer ein Feuer gemacht – wo zum Glück ein ganzer Haufen Bruchholz herumlag …
»Warum hast du nicht mit ihnen gekämpft, Viktor?«, fragte Tel im Laufen. »Warum bist du weggelaufen?«
»Ein Kampf ohne die geringste Chance eines Sieges – das ist etwas für Dummköpfe«, antwortete Viktor. Er hatte nie etwas für derartige schöne Sprüche übriggehabt, aber hier in diesem märchenhaften Herbstwald erschienen die Worte passend.
Tel nickte. Geringschätzig? Zustimmend? Oder einfach nur zur Bestätigung?
»Gleich sind wir da«, sagte sie.
Wie fand sie sich hier zurecht? Sie musste tatsächlich von hier stammen.
Und wirklich, sie gelangten an einen See, dessen Wasser stahlgrau glänzte.
»Spring rein!« Tel rannte, als hätten sie nicht gerade mindestens einen Kilometer hinter sich gebracht. »Spring sofort rein, sonst traust du dich nicht mehr!«
Sie ging mit gutem Beispiel voran und flog aus dem Lauf heraus ins Wasser.
Genauer gesagt, flog sie nicht ins Wasser, sondern sie verschmolz mit ihm, tauchte ohne jedes Plätschern und Spritzen mit dem Kopf in den See. Viktor dagegen plumpste wie ein Nilpferd hinein.
Das eiskalte Wasser, so schien ihm, brannte stärker als Feuer. Du kriegst einen Herzschlag, du Idiot, ging es Viktor reichlich spät durch den Kopf.
Aber sein Herz dachte gar nicht daran, stehen zu bleiben.
Tel tauchte unerwartet neben ihm auf – ihr fordernder Blick heftete sich auf sein Gesicht. Plötzlich begriff Viktor, dass er keine Kälte spürte. Und auch kein Wasser. Als ob er selbst ein Teil dieses eisigkalten Sees geworden wäre – und dann verschwand das Wasser ganz, verwandelte sich in grauen nebligen Rauch, und mit einem Schlag erschien die Sonne neben ihm. Tief unten erstreckte sich die Erde – leuchtend grün, hellblau, braun.
Grimmig pumpte sein Herz das Blut durch seine Adern. Die mächtigen, angestauten Muskeln forderten einen Kampf. Seinen Körper konnte er nicht sehen – und wozu brauchte er ihn jetzt auch. Dort unten erhoben sich die Türme einer Stadt – sie wuchsen, kamen näher, er eilte ihnen entgegen, er wusste, dass man dort auf ihn wartete …
Die Stadt war von Angst befallen. Er, der eben noch unterm Himmel gesegelt war, schritt stolz, unsichtbar durch ihre Sträßchen, die leer waren wie zu Zeiten der Seuche. Er war der Richter. Er musste hier richten. Und bestrafen, wenn nötig …
Dann fühlte er sich plötzlich in einen Palast versetzt. Genauer gesagt, er begriff, dass die mit Mosaiken überzogenen Wände um ihn herum die Wände des Herrscherpalasts waren. Hier gab es Leute. Sie standen dicht gedrängt in einer entfernten Ecke, vermieden es, ihn anzuschauen. Ihn oder jemanden anders? Er wusste es noch immer nicht. Er konnte seinen eigenen Körper nicht sehen – wie bei einem Computerspiel. Nur dass dies kein Spiel war, und sie wussten es, und er wusste es. Zum ungezählten Mal fragte er sich verwundert und zornig, wie jene es wagen konnten, die Gesetze zu brechen, jene, die nicht die Kraft hatten, sich seinem Willen zu widersetzen, die sich nicht trauten, jetzt den Blick zu heben …
Und dann, ob in einem letzten Anflug von Stolz oder vor schierer Angst, erhob der, der über die Stadt und ihre Leute herrschte, den Blick und sah ihn an – er lächelte. Sein Lächeln war der Tod. Das Urteil und seine Vollstreckung …
Jetzt konnte er sich umdrehen und gehen. Diese Angst, dieser Augenblick würden für alle Zeiten reichen – sie würden es nie wieder wagen, gegen seinen Willen aufzubegehren. Oder etwa doch?
Warum war es so kalt? Rund um sie herum stand doch alles in Flammen, die Holzwände brannten, die weichen Kissen, die über dem Boden verteilt waren, brannten, und es brannten jene, die es gewagt hatten, gegen ihn aufzubegehren. Warum war es so kalt …
Tel hatte ihn irgendwie ans Ufer gezogen. Offenbar hatte er das Bewusstsein verloren. Unterkühlung. Woher hatte sie die Kräfte dafür?
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