Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
zusammen. Seine Hand zitterte, es schien, als würde sie sich jeden Augenblick aus Ritors Griff losreißen. Der Junge biss sich auf die Lippen, seine Augäpfel rollten nach hinten.
»Sandra!« Mit scharfem Ton gab das Oberhaupt der Luft seine Anweisungen. Aber die Zauberin hatte bereits von sich aus erkannt, was nötig war. Ohne den Kreis der Hände aufzubrechen, machte sie einen Schritt in die Mitte hin, beugte sich mit jugendlicher Geschmeidigkeit nach vorne und drückte ihre Stirn gegen die schweißbedeckte Stirn des Jungen. Sie verzog schmerzlich das Gesicht, aber ihre Aufgabe hatte sie erfüllt: Der Schraubstock des Schmerzes lockerte seinen eisernen Griff, Asmund richtete sich auf, und sein Blick wurde wieder verständig.
»Halte durch, Junge«, knurrte Ritor durch die Zähne. Die Welle des Schmerzes, die für kurze Zeit abgeflaut war, erreichte auch ihn. »Halte durch. Wenn du es nicht schaffst, wird es mit unseren Alten ein schlimmes Ende nehmen.«
Nur gut, dass weder Roj noch Gaj diese Worte gehört hatten.
Die Flügel waren inzwischen größer und größer geworden. Es sah aus, als würden sie den ganzen Himmel bedecken. Das blaue Himmelsgewölbe war verschwunden, schwarze Wolken ballten sich wie ein dichter Schleier vom Zenit bis zum Horizont, das Tageslicht war verloschen, nur die weißen Federstriche der Flügel hoben sich noch vor dem schwarzen Samt des Himmels ab.
Ritor sammelte sich. Nun begann das Wichtigste. Die Ströme, die den Raum durchquert hatten, trugen Nachrichten
über alle Ereignisse in der Mittelwelt herbei; man musste nur klug fragen, und darauf verstand sich Ritor.
Neuankömmlinge von der Anderen Seite. Neuankömmlinge von den Angeborenen. Neu … neu … neu … neue Kinder bei den Einheimischen dieser Länder, der Mittelwelt. Die Flügel schüttelten jetzt ganze Ozeane von Informationen – wie die Leute von der Anderen Seite das nannten – aus sich heraus. Für die richtige Antwort war Ritor bereit, seine Magierkollegen in den Tod zu treiben.
Wenn der Drachentöter schon hier war, musste die Luft es wissen. Das kochende Blut wirkte schon, auch wenn der feuerrote Streifen noch nicht in der Aura zu erkennen war. Der ewige Zorn der vier Elemente musste diesen vom Schicksal auserkorenen Menschen bereits berührt haben, veränderte ihn schon – vielleicht sogar, ohne dass der Drachentöter selbst es bislang bemerkt hatte. Die kleinsten Teilchen des Windes erinnerten sich daran. Der hochfahrende Zorn und die Gier zu töten, die Fähigkeit, andere zu unterwerfen und geradewegs und unerschütterlich auf das ersehnte Ziel zuzugehen. In der Regel hatte der Auserwählte nicht über diese Eigenschaften verfügt, ehe er zum Drachentöter geworden war. Das wusste Ritor aus eigener Erfahrung. Weit war sein Weg gewesen, vom bescheidenen, verschämten Jungen, vom Bücherwurm und keuschen Jüngling zum jetzigen Ritor, dem bis heute – trotz Asmunds großem Talent – besten Zauberer des Clans der Luft.
Das rasende Heulen in der Höhe wurde immer unerträglicher. Die riesigen Flügel versuchten sich zu lösen, freizubrechen. Versuchten zu schlagen, mit aller ihnen zur Verfügung stehenden, unaussprechlich großen Kraft, und sich von der Schöpfung Erde loszureißen, mit einer einzigen vernichtenden Bewegung diese verhasste steinerne Scholle
in einen Ozean von Staub zu verwandeln, sie zu ergreifen und in ein entferntes Meer zu schleudern! Versuchten, diesen Haufen jämmerlicher, dreister Gestalten vom Antlitz der Welt zu tilgen, die es wagten, nichtswürdige Fragen zu stellen!
Die zum Äußersten gespannte Leine hielt jedoch die Flügel im Zaum. Die Stunde der größten Kraft hatte geschlagen.
Das Muster der Flügel begann zu verblassen. Die Runen zitterten und veränderten ihre Gestalt. Sandra und Solli sperrten die Münder auf. In ihrer Erinnerung geschah dies zum ersten Mal. Aber Roj hatte so etwas schon einmal gesehen. Ebenso Ritor. Und er wusste genau, was als Nächstes folgte.
Die Flügel hatten das Gesuchte gefunden. Aber sie stießen dabei auf fast unüberwindlichen Widerstand. Die straff im Kreisbogen eingespannten, tobenden Windströme begannen auszubrechen. Nur noch wenige Minuten, ehe die bindende Formel schwächer und sich ein rasender Sturm in die Freiheit losreißen würde; wehe dem, der sich ihm in den Weg stellte!
»Öffne die Schleuse, Sandra«, bellte Ritor. Jetzt durften sie nicht an sich denken, sondern mussten das Unglück von ihrer Stadt abwenden. Natürlich hatte
Weitere Kostenlose Bücher