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Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow

Titel: Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
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hin und her auf seinem Platz, blickte aber immer noch zum Fenster hinaus. Dort zogen Hügel und kleine Wäldchen vorbei – eine friedlich-bukolische Landschaft. Je weiter man in die Ferne blickte, umso dichter wurde der Wald, der am Horizont zu einem undurchdringlichen Dickicht verschmolz.
    »Vater hat gesagt, dass Sie sich nicht gleich über sich selbst im Klaren sein würden«, antwortete er. »Ich … ich verstehe schon. Das Medaillon ist das Zeichen der Wächter der Grauen Grenze.«
    »Dein Vater war Wächter. Das heißt, er passte auf, dass die Toten nicht …«
    Der Junge wandte Viktor das Gesicht zu und blickte ihn überrascht an. Jetzt begriff Viktor, warum er so stur zum Fenster hinaus gestarrt hatte: In den geröteten Augen des Jungen glänzten Tränen.
    »Auf die Toten aufpassen? Aber wieso sollte jemand auf sie aufpassen? Die Wächter sorgen dafür, dass die Lebenden die Toten nicht kränken.«
    Viktor wusste nicht, was er sagen sollte – die ganze Situation kam ihm so absurd vor.
    »Sie haben doch keine Schuld«, sagte der Junge ein bisschen trotzig. »Sie wurden in die Welt zurückgerufen, gezwungen zu denken und sich zu bewegen, nachdem sie schon gestorben waren. Sie haben schon keinen ewigen Frieden bekommen, da sollte man sie doch wenigstens ungestört in ihrem Reich leben lassen. Die Graue Grenze hindert
sie daran, hervorzukommen und den Lebenden Schaden zuzufügen. Aber die Lebenden, die dürfen alles. Sie übertreten die Grenze, erschlagen die Untoten, nehmen den Körpern Schmuck, Kettenhemden und Waffen ab. Sie klauen alles … die Toten haben ihre Siedlungen, dort gibt es alle möglichen, merkwürdigen Dinge … mit denen bei uns eigentlich niemand etwas anfangen kann, aber sie werden trotzdem geklaut. Im Norden, wo die Grenze mitten durch die Stadt verläuft, haben Mönche sogar ein richtiges Institut eingerichtet. Sie gehen regelmäßig über die Grenze und … forschen da.«
    Aus seiner Stimme klang Empörung.
    »Dabei gehören sie doch zu uns! Das sind unsere Leute! Menschen und Elfen und Gnome. Sie waren nicht schuld an dieser Schlacht und daran, dass man sie danach von den Toten erweckte. Mein Urgroßvater gehört dazu … und der letzte Herrscher der Elfen und der Rat der Gnome. Die Wächter halten die lebenden Menschen, so gut es geht, von der Grenze fern, indem sie sie erschrecken. Wir …« – dieses wir klang, als wäre der Junge bereits dreihundert Jahre alt -, »wir sind damals absichtlich dort geblieben. Wir haben einen Schwur geleistet, dass wir unsere Brüder beschützen werden, nachdem wir sie verraten haben und sie schon nicht sterben ließen. Und das tun wir, wir beschützen sie.«
    »Deshalb hat dein Vater die Leute überfallen?« Viktor konnte sich nicht zurückhalten. »Um sie von der Grenze fernzuhalten?«
    Der Junge senkte den Kopf und sagte leise: »Nein, nicht nur. Aber deshalb auch … und … das Leben bei uns ist hart. Es gibt dort fast keine Tiere, die Erde ist unfruchtbar – denn die Grenze liegt direkt daneben. Von irgendwas müssen wir leben …«

    »Ich verstehe«, sagte Viktor. Aber es klang angestrengt, denn er konnte einfach keine Rechtfertigung für Räuberei akzeptieren. Seine Güte hatte auch nie ausgereicht, um Verständnis für die kleinen Straßengauner und die korrupten Staatsdiener zu haben, die das Land zugrunde gerichtet hatten. Und auch das Verhalten dieser Räuber hier konnte er nicht rechtfertigen – ganz gleich, was dafür sprach.
    »Sie sind sowieso wütend auf uns«, sagte der Junge. »Ich weiß schon. Sie sind wütend, aber verzeihen Sie meinem Vater.«
    »Ich habe ihm verziehen. Ganz ehrlich.« Diese Worte kamen ihm leichter über die Lippen, und Jaroslaw nickte dankbar.
    Viktor stand auf, ging zur Bar hinüber, öffnete sie und betrachtete die Flaschen. Schließlich wählte er einen schlichten Krug – am Ende musste er dafür noch extra bezahlen -, nahm ein Kelchglas und kehrte zu seinem Platz am Tisch zurück.
    Das Getränk war göttlich. Kein Brandy, wie er zuerst dachte, sondern ein starker, süßlicher Likör, der Dutzende von Kräutern auf der Zunge erahnen ließ. Auf dem Krug waren irgendwelche Runen eingraviert. War das vielleicht ein Elfengetränk?
    »An der nächsten Station steigst du aus«, befahl Viktor.
    Der Junge nickte schweigend.
    »Sieh zu, dass der Grenzer in Würde beerdigt wird. Dann kehrst du nach Hause zurück. Wer wartet dort auf dich?«
    »Niemand.«
    »Gehst du auch nicht verloren?«, fragte Viktor nach

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