Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
kurzem Schweigen. Er durfte nicht zulassen, dass der Junge sich an ihn hängte. Auch nicht aus Mitleid.
»Ich gehe nicht verloren.«
»Gut. Ich schlafe jetzt. Weck mich, kurz bevor wir die Station erreichen.«
Der Junge nickte.
»Das dauert noch. Wir müssen die Grenze umfahren.«
Viktor blickte aus dem Fenster, als könnte man in dem Meer aus Wald die Grenze zwischen der Welt der Toten und der Welt der Lebenden erkennen.
Und genau das war der Fall!
Da waren fast unmerkliche, ganz vage und doch unzweifelhafte Kräfte anwesend. Als wäre ein stürmischer Wind durch den Wald gejagt, wichen die Bäume zur Seite, krümmten sich; als wirbelte eine Bö hindurch, brachen Äste ab; als hätte ein stürmisches, in der Höhe verlaufendes Feuer eine Schneise durch den Wald geschlagen, die Baumkronen in Brand gesetzt und verkohlt; als wäre eine Wolke aus Staub aufgewirbelt worden und hätte sich für immer auf dem Laub abgesetzt. Das Band, das sich durch den Wald zog, war fein, fast nicht wahrnehmbar – aber es war auch nach all den Jahrhunderten noch lebendig. Die Absperrung, die Grenze. Die Graue Grenze.
»Im Namen der vier Elemente …«, flüsterte Viktor.
Wieder rollte es heran, ergriff ihn wie eine Welle – er war schon nicht mehr er selbst oder nicht mehr nur er selbst.
»Mit der Luft und dem Feuer, mit dem Wasser und der Erde – mit den ewigen Kräften trenne ich euch von den Lebenden …«
Der Zug rüttelte heftig. Die Lampen gingen an und aus. Der Junge saß nicht mehr im Sessel, sondern drückte sich in eine Ecke und starrte Viktor entsetzt an.
»Und ich ziehe die Graue Grenze zwischen euch und jenen, denen es noch bevorsteht zu sterben …«
Und dann kam es schlagartig über ihn. Wie ein Kontrapunkt. Sein Bewusstsein vernebelte sich. Erdbruch, Wirbel, Wasserstrudel, Flamme …
Die Letzten. Die zwei Letzten. Die schon seine Kraft spüren, die schon ahnen, dass auch sie nicht standhalten werden. Lodernder Wald, Wasserfluten stürzen vom Himmel, aber sie zischen und verdampfen, haben nicht die Kraft, die aufgequollene Erde zu erreichen. Und er geht durchs Feuer – ihm ist diese Macht gegeben, er hat die Kräfte, um sich allen Elementen entgegenzustemmen.
Und die beiden Letzten erkennen das.
Der Himmel trägt sie nicht länger, die Luft unter ihren Flügeln gibt nach, eine Sintflut drückt sie nieder, und die Erde tut sich auf unter dem ungeheuerlichen Gewicht ihrer schuppigen Körper, und ihre todbringende Flamme, die alle Feinde stets so gehorsam zu Asche versengte, droht nun in den Abgrund zu stürzen.
Das heißt, sie werden ihm mit menschlichem Antlitz begegnen.
Das heißt, auch er wird sie als Mensch einholen.
Die Abrechnung. Für die tausendjährige Herrschaft, für den Grimm und die Unbeugsamkeit, für die Weigerung, auch nur einen Funken der Macht zu teilen, für maßlosen Dünkel und Stolz.
Er ist auserwählt – und er wird zum Banner der neuen Ära. Zum Boten der Freiheit.
Der Wald wird lichter, in der Ferne glitzert das Band eines Flusses, und an dessen Ufer sieht er die Letzten stehen. Ein Mann und eine Frau. Der Mann trägt einen schwarzen Harnisch, die Frau eine zerrissene Tunika. Sie hat bei dem flüchtigen Kampf im Himmel mehr abbekommen.
Der Mann im schwarzen Harnisch geht voran, ihm entgegen. Sein Gesicht ist vom vergitterten Visier des Helms völlig verdeckt. In der Hand hält er den Griff eines Schwertes. In seiner Stimme erklingt Müdigkeit – nicht Angst und auch kein Hass. Wenigstens verstehen sie es, mit Würde zu verlieren.
»Warum verfolgst du uns? Wir gehen fort. Wir sind schon auf dem Pfad. Ihr wollt Freiheit? So nehmt sie euch …«
In seinen Worten liegt Wahrheit, aber die Zeit der Mildtätigkeit ist vorbei.
»Ihr geht nirgendwo hin. Denn ich bin der Drachentöter.«
Der Mann hebt sein Schwert. Vielleicht glaubt er immer noch an seinen Sieg. Vielleicht sucht er einen schönen Tod …
Es war vorbei. So schnell, wie es gekommen war, und zurückgeblieben waren nur eine brausende Schwere im Kopf und schwache Hände. Der Zug schaukelte über die Gleise, vor dem Fenster zog sich, tief versunken im Wald, die unsichtbare Grenze entlang.
»Was ist mit mir, hm?« Viktor war sich nicht im Klaren darüber, ob er seine Frage an den Jungen oder an sich selbst gerichtet hatte.
Aber der Sohn des Grenzers wusste die Antwort nicht, und Viktor erst recht nicht.
Doch der Junge gab sich alle Mühe. Er schien seine Worte sehr sorgfältig zu wählen. Er versuchte, eine Sache
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