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Drachenreigen (mit Bonus-Story: Schau hin!)

Drachenreigen (mit Bonus-Story: Schau hin!)

Titel: Drachenreigen (mit Bonus-Story: Schau hin!) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Stadt.“
    „Umso besser.“ Sie rannte los, meine Hand noch immer in der ihren, und ich hatte keine andere Wahl, als mitzulaufen. Als hätte ich auch ernsthaft irgendetwas anderes in Erwägung gezogen.
    Ganz kurz blickte ich über die Schulter zurück zur Stadtmauer, zwei- oder dreihundert Schritt weit hinter uns. Dann hatte ich genug damit zu tun, auf meine Füße zu achten, während wir durch das hohe Gras stürmten, durch ein Meer aus wogenden Halmen, halb so hoch wie wir selbst. Wir liefen parallel zu einem Streifen aus Buschwerk und niedrigen Bäumen, der sich von der Stadt bis zum See hinabzog und dort in den Uferwald mündete.
    „Da“, rief sie, „sie ist noch immer in der Luft!“
    „Sieht aus, als würde sie in den See fallen.“
    „Sei kein solcher Griesgram.“
    „Bin ich gar nicht.“
    „Bist du doch.“ Sie blieb stehen, drehte sich zu mir um, umarmte mich aus heiterem Himmel und sah mir mit lachenden Augen ins Gesicht. „Ach, Amethyst ... du großer, dummer, süßer Junge. Du musst keine Angst haben, dass dir irgendwas entgeht heute Nacht. Ich weiß, was du willst, und, glaub mir, ich will genau dasselbe.“
    Hatte sie das wirklich gesagt?
    „Aber erst“, sagte sie, „suchen wir die Schuppe. Und dann –“ Sie gab mir den großartigsten Kuss, den man sich vorstellen kann – den jedenfalls ich mir vorstellen konnte. Plötzlich rannte sie wieder, und ich hinterher, aber das waren nur meine Beine, denn mein Kopf schwebte noch immer irgendwo dahinten und versuchte zu verarbeiten, was sie gerade gesagt hatte.
    Ich weiß, was du willst, und, glaub mir, ich will genau dasselbe.
    Ich hätte ihr alles geglaubt in diesen Augenblicken. Ich hätte alles für sie getan. Sogar eine Drachenschuppe gesucht, die wir nie finden würden, weil niemals zuvor ein Mensch eine Drachenschuppe gefunden hatte.
    „Wir schon“, sagte sie und ich überlegte ernsthaft, ob sie meine Gedanken las. Aber das war nur, weil wir wirklich beide das gleiche dachten in dieser Nacht.
    Wir pflügten durch das Gräsermeer, während auf der Stadtmauer ein großes Geschrei anhob. Ich dachte, man hätte uns entdeckt, aber tatsächlich war es Jubel, und er galt dem Drachenpaar am Himmel, das jetzt wie ein Feuerrad vor den Sternen rotierte und Glutwogen in alle Richtungen schleuderte. Das ist es, warum wir Menschen ein gutes Feuerwerk so schätzen: Es erinnert uns an den Tanz der Drachen, an das, was uns nur einmal im Jahr zu sehen vergönnt ist und das vielleicht bald für immer Vergangenheit sein wird. Schon damals gab es nicht mehr viele Drachen, von Jahr zu Jahr wurden sie weniger, und es lag etwas Verzweifeltes in ihrem Paarungstanz am Nachthimmel, denn selten entstand dabei der Nachwuchs, den sie so dringend brauchten.
    Zu einem anderen Zeitpunkt hätte mich die Trauer der Drachen wohl angesteckt – ich neige dazu, das Leid anderer anzunehmen, jedenfalls sagen mir das alle –, aber in diesen Minuten hatte ich anderes im Kopf.
    Beim Laufen rutschte ihr Kleid wieder höher, doch sie beachtete es nicht. Nicht um mich zu necken, sondern weil es keine Rolle für sie spielte. So war sie eben, und es war Teil von dem, was ich so an ihr mochte.
    Heute wünsche ich, ich könnte sie wiedersehen. Noch einmal mit ihr über die Wiesen laufen, mich durchs Unterholz zwängen. Noch einmal den Augenblick erleben, als der See vor uns lag.
    „Du hast recht“, sagte sie, als wir am Ufer stehen blieben.
    Das hatte ich tatsächlich, aber ich war nicht stolz darauf.
    Die Schuppe trieb in der Mitte des Sees, gewölbt und so groß wie ein Ruderboot. Sie glühte unverändert im Dunkeln und erleuchtete einen Umkreis von zehn, zwanzig Schritt. Ihr Schein zersplitterte auf den sanften Wogen, als trieben Goldstücke auf dem schwarzen Wasser.
    „Und nun?“
    Im Feuerschein sah ich ihre Mundwinkel zucken. „Was denkst du?“
    „Ich seh´ dir an, was du denkst.“
    „Schön“, sagte sie lachend und streifte das Hemd ihres Vaters ab, ohne die Knöpfe zu öffnen. „So eine Gelegenheit kommt nie wieder.“
    Das glaubte ich auch – obwohl mir die Befürchtung kam, dass sie etwas anderes meinte als ich.
    „Du willst rüberschwimmen?“, fragte ich.
    „Du nicht?“
    „Doch. Klar.“
    Sie löste die schmalen Lederbändchen, die das Kleid an ihren Schultern hielten, und ich sah zu, wie es an ihren Hüften hinabglitt, an ihren Schenkeln und rund um ihre Füße liegen blieb. Das alles im Halbschatten, denn gerade jetzt legten die Drachen am Himmel eine

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