Drachenritter 02 - Der Drachenritter
den Gehilfen an, weil er tatenlos herumstünde und den Gentleman aufhalte, anstatt ihn so rasch wie möglich zu dem Gasthof zu führen.
Der Gehilfe machte sich hastig mit Jim auf den Weg. Während er dem jungen Mann folgte, überlegte Jim, ob der Schuster wohl ernstlich glaube, daß er ernstlich glaube, es bestünde keine Gefahr, ausgeraubt zu werden, und sei es im besten Gasthof der Stadt. In diesem Zeitalter hatten an Land wie zu Wasser zwei Gesetze vor allem anderen Vorrang. Das eine war das Gesetz des Überlebens. Das zweite Gesetz war das der Maximierung des persönlichen Nutzens – wobei die verschiedenen Klassen jeweils etwas anderes darunter verstanden.
Die Bauern, die Ärmsten der Armen, wollten in Ruhe arbeiten, um sich am Leben zu erhalten. Leute wie der Schuster wollten ihre Stellung unter Ihresgleichen verbessern. Die Edelleute wiederum, von Brian und Giles bis zu den königlichen Häuptern der verschiedenen Staaten, wollten ihren Reichtum mehren, nicht nur um ihren persönlichen Neigungen nachkommen zu können, sondern auch um vor dem Hintergrund gefüllter Schatzkammern königliche Großmut zu beweisen.
Aufgrund seiner bisherigen Erfahrungen hatte Jim den Eindruck gewonnen, daß die Oberschicht in der Öffentlichkeit gewissermaßen immer auf einer Bühne stand. Angefangen von den Königen bis zu den einfachen Rittern spielten sie die Rolle, von der sie glaubten, sie sei ihnen von Gott zugeteilt; und während die Befriedigung persönlicher Gelüste zwar einen beinahe ebenso großen Stellenwert besaß, kam es ihnen vor allem darauf an, eine möglichst gute Vorstellung zu liefern.
Im wesentlichen hatten Ritter ritterlich aufzutreten und Könige königlich, und zwar in genau der gleichen Weise, wie ein Schauspieler eines späteren Zeitalters einen Ritter oder König charakterisieren würde, um das Publikum zu unterhalten, das dafür bezahlt hatte, ihn zu sehen.
Mittlerweile hatten sie den Gasthof erreicht, dessen Eingang sich in keiner Weise von den anderen Maueröffnungen unterschied, an denen sie unterwegs vorbeigekommen waren; ein Laden war im allgemeinen nur daran zu erkennen, daß die Tür zum Zeichen, daß geöffnet war, offenstand.
Auch die Tür des Gasthofs war nur angelehnt; Jim drückte sie auf und trat ein, ohne dem Gehilfen ein Trinkgeld zu geben und ihn wegzuschicken, bevor er sich vergewissert hatte, daß er hier richtig war. Dies bestätigte allerdings der Wirt, der ihn unverzüglich begrüßen kam – diesmal ein Mann, der ebenso groß war wie Jim, dafür aber sehr mager war und einen Schnurrbart hatte. Dabei handelte es sich nicht um einen stolzen, gezwirbelten Schnurrbart wie bei Sir Giles, sondern um einen langen, dünnen, schwarzen, der beiderseits der Mundwinkel herabhing. Der Wirt erklärte, daß nicht nur Sir Giles, sondern auch der andere Ritter anwesend seien.
»Wie heißt dieser andere Ritter«, fragte Jim, »und welchen Rang hat er inne?«
»Sir Brian Neville-Smythe, Euer Lordschaft«, antwortete der Wirt. Die Anrede brachte er mit erstaunlich tiefer Baßstimme hervor. »Offenbar sind sie miteinander befreundet und erwarten noch einen weiteren Freund. Sind Euer Lordschaft vielleicht der Baron James de Bois de Malencontri?«
»Der bin ich«, sagte Jim und hätte beinahe vergessen, finster dreinzuschauen, so froh war er, daß Brian – offenbar zusammen mit seinen Männern – hier war und daß er und Giles ihn erwarteten. »Bringt mich sogleich zu ihnen.«
»Sehr wohl«, antwortete der Wirt und wandte sich zur Treppe.
»Ach, und gebt diesem Kerl ein Trinkgeld«, grollte Jim. »Setzt es auf meine Rechnung.«
Nachdem er das Problem, kein Kleingeld dabeizuhaben, das er dem Schustergehilfen hätte geben können, geschickt umschifft und der Wirt dem Schustergehilfen eine kleine Münze gegeben hatte, folgte er dem Wirt die Treppe hinauf.
Das Wiedersehen verlief stürmisch. Giles und Brian hießen Jim willkommen wie einen lange vermißten Bruder.
Anfangs hatte Jim sich gewundert, weshalb die Menschen dieser Zeit ein so großes Aufhebens um die Begrüßung von Leuten machten, die sie bloß ein oder zwei Tage lang nicht gesehen hatten. Mit der Zeit hatte er allerdings begriffen, daß es unter den gegebenen Umständen gar nicht so unwahrscheinlich war, daß sich zwei Menschen, die sich trennten, niemals wiedersehen würden.
Der Tod war einem hier viel näher als im zwanzigsten Jahrhundert. Schon ein Besuch in einer nahegelegenen Stadt konnte dazu führen, daß derjenige
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