Drachenritter 02 - Der Drachenritter
einzulassen.
Er klopfte mit den Knöcheln an die Tür. Und wartete.
Nach einer Weile klopfte er erneut. Immer noch keine Reaktion.
Er drückte die Tür ganz auf und trat hindurch. Er befand sich in einem düsteren Saal, der lediglich durch zwei schmale Fensterschlitze erhellt wurde, die seitlich der Türflügel angebracht waren.
»Irgend jemand zu Hause?« rief er – obwohl er bereits wußte, daß jemand zu Hause war. Er spürte, daß jemand da war – entweder ein Er, eine Sie oder mehrere. Als immer noch keine Antwort kam, wurde ihm die Warterei allmählich zuviel.
»Ich weiß, daß Ihr da seid!« rief er. »Ihr glaubt doch wohl nicht, Ihr könntet einen anderen Drachen zum Narren halten? Kommt raus, kommt raus, wer immer Ihr seid!«
Unwillkürlich war er in den Singsang seiner Kindheit verfallen.
Die Stille dauerte unverändert an, dann fiel ein langes Stück Stoff – es mußte wohl mindestens zehn Meter lang sein, denn das andere Ende verschwand über ihm in der Dunkelheit – vor Jim herab und wurde hin und her geschwenkt.
»Verschwindet!« dröhnte eine gewaltige, hohle Drachenstimme. »Verschwindet, wenn Euch Euer Leben lieb ist!«
Die übertriebene Stimme und das hin und her schwankende Tuch erinnerten Jim an die Halloween-Partys seiner Kindheit. Beinahe hätte er gelacht.
»Macht Euch doch nicht lächerlich!« rief Jim. »Ich werde nicht verschwinden!« Er hatte nun auch seinerseits die Stimme erhoben. Sie war zwar nicht so gewaltig wie die des fremden Rufers, kam ihr allerdings recht nahe.
»Ihr seid ein englischer Drache!« dröhnte die Stimme. »Ihr habt hier nichts verloren! Verschwiiindet!«
»Na gut, ich bin ein englischer Drache«, brüllte Jim zurück, »aber ich habe einen Paß dabei, den ich einem verantwortlichen französischen Drachen übergeben soll!«
»Einen Paß?« fragte die Stimme. »Bleib, wo du bist.«
Das weiße Tuch wurde nach oben gezogen, und man vernahm ein Scharren, zunächst unmittelbar über Jim, dann verlagerte es sich zur Rückseite des Saals und wanderte schließlich zu Jim herunter. Er wartete. Nach einer Weile näherte sich das Geräusch schwerer Drachenschritte, und dann tauchten gleich zwei Drachen auf, von denen der eine merklich kleiner als der andere war. Beide wirkten unterernährt. Der größere Drache war wohl einmal ebenso groß wie Jim gewesen, doch nun war er vom Alter gezeichnet, und die Muskeln waren auf den großen Knochen verschrumpelt.
»Wie heißt Ihr?« fragte er Jim mit rauher, tiefer Baßstimme.
Kein Wunder, dachte Jim, daß die Stimme des Fremden so hohl geklungen hatte, als er von oben heruntergerufen hatte. Er war tatsächlich hohl; der Ausdruck ›nichts als Haut und Knochen‹ war hier keineswegs fehl am Platz. Offenbar war er älter, als Smrgol gewesen war. Allerdings war er kein solch freundlicher alter Drache wie Smrgol. Er wirkte alt und böse.
»James«, antwortete Jim knapp.
Der größere Drache schaute den kleineren an.
»Ein seltsamer englischer Name«, sagte er zu seiner Gefährtin. Der kleinere Drache senkte zustimmend den bösartig schmalen Kopf – soweit Jim erkennen konnte, handelte es sich um eine Drachendame. Auf einmal wurde Jim klar, daß er hier etwas vor sich hatte, das unter den englischen Drachen eine Seltenheit war. Ein Drachenpaar, das fern jeder Drachengemeinde lebte.
Die Augen des größeren Drachen funkelten begehrlich. »Wo ist der Paß?« fragte er.
Jim wurde mißtrauisch.
»Draußen«, antwortete er. »Ich werde ihn holen. Ihr beide wartet hier solange.«
Der größere Drache brummte etwas. Allerdings rührte sich keiner von beiden, als Jim kehrtmachte, wieder zur Tür hinaustrat und den Burggraben überquerte, bis er wieder auf dem nackten Erdboden und dem spärlichen Gras vor der Burg stand. Er wandte dem Eingang den Rücken zu.
Verzweifelt versuchte er sich zu erinnern, welche Anweisungen Carolinus ihm für den Fall erteilt hatte, daß er den Paß wieder hervorholen und auf normale Größe bringen wollte. Wenn Carolinus die Angelegenheit bloß nicht dadurch kompliziert hätte, daß er ihm im gleichen Atemzug beschrieben hätte, wie er die Enzyklopädie der Nekromantie wieder hervorholen konnte.
Nach angestrengtem Nachdenken fiel ihm die Lösung ein.
Um den Sack mit den Juwelen hervorzuholen, sollte Jim zweimal husten, einmal niesen und dann abermals husten. Damals hatte er nicht bedacht, daß er die Gestalt eines Drachen haben würde, wenn er die Juwelen brauchte. Natürlich konnte er sich
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