Drachenritter 05 - Der Drache, der Graf und der Troll
hatte - obwohl das erst sichtbar wurde, als nach und nach die letzten Gäste ihre Eßmesser abwischten und wieder wegsteckten. Es wurden immer noch Kleinigkeiten angeboten, aber die völlig übersättigten Gäste stierten sie nur mit vorquellenden Augen an, absolut unfähig, auch nur noch einen einzigen Bissen herunterzukriegen.
Wenn die Gäste auch kein Essen mehr herunterbrachten, beim Wein hatten sie keinerlei Schwierigkeiten, und die Wasserkrüge, die auf dem Tisch standen, fanden immer weniger Beachtung.
Außerdem hatte Jim erwartet, daß die wenigen Frauen, die noch geblieben waren, die Herren an die Notwendigkeit eines einigermaßen gesitteten Benehmens erinnern würden. Er hatte vergessen, daß die Damen dieser Zeit genauso freimütig waren wie die Männer.
Das Ganze entwickelte sich also zu einem trunkenen, unflätigen Gelage. Das einzige, was Jim versöhnte, war die Tatsache, daß es sich überraschend melodisch gestaltete. Als die Party das Stadium erreichte, da den Gästen nach Singen zumute war, entpuppten sie sich als bemerkenswert gute Sänger.
Das einzig Unerfreuliche war, daß in verschiedenen Teilen des Saales verschiedene Lieder gesungen wurden.
Die Erlösung kam von einer unerwarteten Seite.
»...Ruhe!« brüllte der Graf und hämmerte auf den Tisch vor sich. »Ruhe, verdammt! Ich sagte - RUHE !«
Er brüllte immer weiter, und der Lärm nahm allmählich ab, während sich die Botschaft bis in die letzten Winkel des Saals herumsprach. Das Lachen und Reden verstummte, die Sangesgruppen brachen mit einigen letzten, mißtönenden Akkorden ab, und schließlich hätte man im Raum eine Stecknadel fallen hören können.
»Das ist schon besser!« Der Graf hatte seinen Wein offensichtlich auch nicht mit allzu viel Wasser versetzt. »Ich möchte doch um ein wenig Ordnung bitten. Nur ein Lied gleichzeitig, und alle können nach dem ersten Vers mit dem Sänger zusammen singen. Ich werde die Sänger bestimmen. Sir Harimore!«
Sir Harimore stand auf und begann vollkommen ungehemmt und mit einem hellen, reinen Tenor zu singen.
»Deo gracias anglia Redde pro victoria.
Oure kyng went forth to Normandy ...«
Jim erkannte das Lied sofort. Es war das Agincourt-Weihnachtslied. Im Geiste übersetzte Jim es in die Zeilen, wie er sie aus seinem Studium des Mittelalters in Erinnerung hatte - und füllte, wo sein Gedächtnis ihn im Stich ließ, die Lücken mit dem Englisch des zwanzigsten Jahrhunderts.
»Oure kyng went forth to Normandy...
Wyth grace and myght of chivalry;
Ther God for him wroghte merveilously,
And so Englond may calle and crie:
Deo gracias!«
Alle anderen kannten das Lied offensichtlich auch. Es handelte vom Sieg König Heinrichs V. über die Franzosen in der Schlacht von Agincourt im Jahre 1415 - aber plötzlich merkte Jim auf.
Er befand sich, wie er schon vor längerer Zeit festgestellt hatte, im England des vierzehnten Jahrhunderts dieser alternativen Welt. Theoretisch hatte die Schlacht von Agincourt also jetzt, da sie hier besungen wurde, noch gar nicht stattgefunden.
Aber andererseits hatte er bereits eine Anzahl von Ereignissen entdeckt, die nicht mit der Geschichte seiner eigenen Welt übereinstimmten. Jedenfalls schienen die anderen im Raum das Lied nicht nur zu kennen, sondern auch mit größtem Vergnügen zu singen.
Alle Stimmen erhoben sich nun zu dem nächsten Vers, in dem die Rede davon war, wie König Heinrich die Stadt Harfleur belagerte. Die Stimmen fügten sich wunderbar zusammen, und die wenigen Frauenstimmen unter ihnen verliehen der Siegeshymne einen beinahe engelsgleichen Klang. Jim konnte nicht widerstehen, mit den anderen mitzusingen, obwohl er seine Stimme leise hielt, damit ihre mangelhafte Qualität die Ohren der Umsitzenden nicht beleidigte. Schließlich arbeiteten sie sich bis zum letzten Vers vor, in den die ganze Gesellschaft mit besonderer Inbrunst einfiel.
»Now gracious god let save oure kyng,
His peple, and alle his wel-wyllyng,
Give him good lyf and good endyng,
That we with mirth may savely synge:
Deo gracias!«
Tiefe Stille senkte sich über die Halle, und Jim lehnte sich mit Vergnügen in seinem gepolsterten Stuhl zurück. Dieses Lied, dem er in seinem Studium begegnet war, dessen Melodie er allerdings nie gekannt hatte, ging ihm zu Herzen.
Aber der Graf rief bereits die nächsten Sänger auf. Ein beleibter Ritter in mittleren Jahren stand auf und sang mit einem volltönenden Bariton ein Lied, das Jim sogar aus seinem
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