Drachenritter 05 - Der Drache, der Graf und der Troll
Sache bestand darin, daß Jim im Grunde genommen überhaupt nicht in der Lage war, über irgend etwas zu reden.
»Ich glaube nicht, daß ich auch nur noch fünf Minuten lang die Augen offen halten kann«, murmelte er Angie zu, nachdem sie fast drei Stunden bei Tisch gesessen hatten.
»Versuch trotzdem, bis zum letzten Gang durchzuhalten«, flüsterte Angie zurück. »Es kann nicht mehr lange dauern. Sie müßten jetzt jeden Augenblick das Dessert reinbringen.«
»Aaah, gut!« quiekte eine jugendliche Stimme vom anderen Ende des Tisches, deren hoher Klang über die Gespräche der Erwachsenen hinweg überall durchdrang. Jim beugte sich vor und sah den Knabenbischof -einen Jungen aus der Kathedrale des Bischofs, der mit dessen Gefolge gekommen war. Es gehörte zum Weihnachtsfest, daß ein wie ein Miniaturbischof gekleideter Junge mit den anderen Gästen an der hohen Tafel speiste und die Mundschenke sich vor ihm verbeugten und ihn aufs Haar genauso behandelten wie Richard de Bisby höchstpersönlich. Im Augenblick machte er sich strahlend mit seinem Löffel über die Schale her, die man gerade vor ihn hingestellt hatte. Im Grunde war nichts an ihm auszusetzen, dachte Jim verdrossen; wahrscheinlich war er ein guter Junge, aber seine schrille Stimme schien alle anderen Gespräche zu übertönen.
Dankenswerterweise würde seine Rolle morgen ein Ende finden. Heute war der Tag des Evangelisten Johannes. Morgen war der Tag der Unschuldigen Kinder - mit der Kindermesse -, und danach würde dieses kleine Bischofsimitat wieder ein ganz gewöhnlicher Junge sein. In der Zwischenzeit schien seine Stimme Jims Kopf von einem Ohr zum anderen zu durchbohren, denn seine Kopfschmerzen waren zurückgekehrt.
Jim lehnte sich mürrisch zurück. Noch ein Gang. Und wirklich, in genau diesem Augenblick stellte ein Mundschenk eine Schale vor ihn hin. Voller Abscheu betrachtete er deren Inhalt. Dieser war im Grunde recht hübsch anzusehen. Die Nachspeise war ein Wirbel aus roten, goldenen und weißen Farbtönen, und es handelte sich offensichtlich um einen dünnen Pudding. Jim griff nach seinem Löffel, um so zu tun, als äße er, und führte eine kleine Menge zum Munde.
Ärgerlicherweise schmeckte es köstlich; köstlich und sehr süß. Aus irgendeinem Grund schien der Zucker den Appetit anzuregen, den Jim schon Stunden zuvor verloren geglaubt hatte. Die rote Farbe stammte wahrscheinlich von Quitten, und die beiden anderen Zutaten waren Honig und schwere Schlagsahne. Das Kunststück war offensichtlich die Mischung all dieser drei Geschmäcker auf einem einzige Löffel. Zu seinem eigenen Erstaunen aß er die Schale bis auf den letzten Rest leer, und der Zucker in der Speise schien ihn vorübergehend wiederzubeleben.
Seine Laune besserte sich dadurch jedoch nicht.
»Sieh dir die Leute an den langen Tischen doch nur an«, brummte er Angie ins Ohr, »wie sie danach geifern, mich hier festzuhalten, damit ich wieder die ganze Nacht lang mit ihnen hier sitze und trinke und singe!«
»Nichts dergleichen«, flüsterte Angie beschwichtigend. »Ich sehe keinen einzigen, der dich im Augenblick auch nur anschaut. Ach übrigens, wolltest du nach dem Essen gleich zu Bett gehen?«
»Ja, wollte ich.«
»Warum bringst du deine Matratze nicht runter zu Brian?« fragte sie. »Er wird noch eine ganze Weile hier bleiben, und vielleicht macht ihm dein Schnarchen weniger aus als uns.«
»Ich werde heute nacht nicht schnarchen«, versprach Jim.
»Laß uns auf Nummer Sicher gehen«, sagte Angie. »Außerdem hätte es auch für dich Vorteile, wenn du zu Brian übersiedeln würdest. Weder wir noch Robert könnten dich dann stören. Aber geh noch nicht gleich...«
Ihre letzten Worte waren eine Erwiderung darauf, daß Jim sich zu erheben begonnen hatte.
»Noch nicht gleich?« stieß er ärgerlich hervor.
»Trink zuerst noch einen kleinen Schlaftrunk«, sagte Angie.
Jim schauderte. Er hatte es während der ganzen Mahlzeit hindurch vermieden, viel von seinem mit reichlich Wasser verdünnten Rotwein zu trinken. Aber nun straffte er sich und nippte ein wenig von dem gewürzten Wein in seinem Kelch, einem fast rechteckigen Becher mit Säulenfuß, den man vor ihn hingestellt hatte.
»Jetzt lächle«, murmelte Angie. »So ist es richtig. Jetzt steh auf. Küß mich - nein, nein, Jim! Auf die Wange, Jim - die Wange! Manieren! Wir befinden uns in der Öffentlichkeit. Jetzt kannst du gehen.«
Jim trieb langsam mit einem Gefühl herrlichen Wohlbehagens aus tiefem
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