Drachenritter 05 - Der Drache, der Graf und der Troll
konnte seine Frage mitanhören.
»Ach, es hat schon immer einen Riesen in der Burg des Herzogs gegeben«, erwiderte Brian. »Das weiß doch jeder.«
»Und warum nennt Ihr ihn plötzlich Herzog?« fragte Jim. »Ich erinnere mich daran, daß Ihr ihn Herzog nanntet, als ich Euch das erste Mal von diesen Weihnachtsgesellschaften hier auf der Burg sprechen hörte. Ich habe ihn dann lange selbst als Herzog bezeichnet, bevor ich herausfand, daß alle anderen ihn einen Grafen nannten. Was ist er denn nun?«
»Ach, er ist durchaus ein Graf«, meinte Brian. Dann warf er einen Blick über die Schulter in den leeren Korridor hinter sich und senkte ein wenig die Stimme. »Es ist nur so, daß er meint, er sollte eigentlich ein Herzog sein. Seine Familie, wißt Ihr, läßt sich auf die Zeiten der alten Römer zurückführen. Sein ältester Vorfahr war ein Herzog - oder ein Dux, wie die Leute das damals nannten. Jedenfalls wünscht er sich von Herzen, Herzog genannt zu werden, und jene von uns, die ihn gut kennen, tun ihm in privaten Gesprächen manchmal den Gefallen - natürlich nur, wenn wir unter uns sind, Ihr versteht. Es ginge auf keinen Fall an, ihn in der Öffentlichkeit mit Herzog zu titulieren. Aber das ist einer der Gründe, warum er den Prinzen dieses Jahr eingeladen hat. Er würde gerne eines Tages wirklich zum Herzog erhoben werden, und dieser Tag könnte sehr wohl kommen, wenn unser junger Prinz König wird und ihm seinen Wunsch erfüllt - falls Edward am Ende findet, daß ihm diese zwölf Tage und der Graf selbst gefallen haben.«
Sie waren im Erdgeschoß angelangt, am breiten Eingang zum großen Rittersaal des Palas, wo die Mundschenke alle Hände voll zu tun hatten, die auf ihren Böcken ruhenden Tischplatten für das Festmahl zu decken.
»Auf der anderen Seite«, fuhr Brian fort, »sieht die Sache vom Standpunkt des Prinzen folgendermaßen aus: Je mehr einflußreiche Männer er seine Freunde nennen kann, um so stärker ist seine Position, wenn es um die Frage der Nachfolge seines Vaters geht. Niemand kann vorhersagen, ob nicht irgendwo ein anderer Thronanwärter auftauchen könnte, ein entfernter Cousin oder etwas Derartiges. Um sich dagegen zu wappnen, ist der Prinz gut beraten, dafür zu sorgen, daß die Mächtigen des Königreiches auf seiner Seite stehen. Seine Ratgeber, zu denen auch Sir John Chandos gehört, werden ihm das gewiß erklärt haben. Die Situation ist also vertrackter, als es den Anschein hat, versteht Ihr?«
»Ja, ich verstehe tatsächlich«, erwiderte Jim.
Sie waren jetzt im Untergeschoß angelangt, wo für den Notfall Pferde für den Herzog und sein unmittelbares Gefolge bereitstanden. Hierher brachte man die Tiere auch, wenn die Burg belagert wurde und die Verteidiger sich zum letzten Gefecht in diesen Turm zurückzogen. Bis hier hinunter drang kaum noch Tageslicht, und die Beleuchtung durch die in Wandhaltern steckenden Binsenfackeln war immer schwächer geworden, je tiefer sie kamen. Jim hatte nicht die leiseste Ahnung, warum sie in den Ställen irgendeinen Riesen finden sollten - aber seine Verwirrung steigerte sich noch, als Brian ihn ein kurzes Stück von den Ställen weg zu einer weiteren Treppenflucht führte, die noch weiter in die Tiefe ging.
»Holla! He! Ho! Einen Augenblick mal! Was glaubt Ihr, wo Ihr da hingeht?«
Jim und Brian drehten sich um, bevor sie einen Fuß auf die erste Stufe der Treppe gesetzt hatten. Augenblicklich sahen sie sich in dem schwachen Licht einem eher kleinen, rundlichen Mann gegenüber; er hatte einen borstigen, grauweißen Schnäuzer, einen kleinen, spitz zulaufenden, grauweißen Bart auf dem Kinn eines rundlichen Gesichtes und wilde, blaue, ziemlich hervortretende Augen unter makellos weißen Augenbrauen. Auch sein Haar war von makellosem Weiß.
Von der Taille seines dunkelroten, üppigen Wollgewands baumelte ein Schwertgürtel mit einem schweren Schwert daran. Unmittelbar hinter ihm standen zwei große Bewaffnete, die blanke Schwerter in Händen hielten.
»Mylord!« sagte Brian, als er das Gesicht erkannte, das ihn in der Finsternis anblinzelte. »Ich glaube, Ihr seid Sir James, dem Baron von Malencontri et Riveroak, bereits einmal begegnet. Er ist ein Lehrling ...«
»Lehrling?« explodierte der weißhaarige Mann und übertönte Brians letzte Worte. Die weißen Augenbrauen hatten sich hoch in seine Stirn geschoben, aber Brian hatte sich bereits zu Jim umgewandt.
»Sir James«, fuhr er fort, »Ihr steht vor Eurem Gastgeber und unserem Grafen,
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