Drachenruf
würde, spielte sie nicht auswendig, sondern vom Blatt. Es waren in der Tat einige Variationen eingetragen; die ersten meisterte sie mühelos, aber bei der vierten und fünften patzte sie, weil die Narbe einen schnellen Griffwechsel einfach nicht zuließ.
»Aha, aha«, murmelte er, und das klang merkwürdig befriedigt. »Das Spielen vom Blatt scheint dich etwas zu überfordern. Nun gut, das wäre es. Du kannst gehen.«
»Ich bitte um Verzeihung, Meister Morshai...«, begann Menolly und streckte erneut die Hand aus, um ihm die Narbe zu zeigen.
»Was?« Er funkelte sie zornentbrannt an. »Hinaus! Ich sagte,
du kannst gehen! Wohin kämen wir denn, wenn sich nun schon Mädchen einbilden, sie könnten das Harfner-Handwerk oder gar das Komponieren erlernen!« Sein Keifen wich schriller Panik. »Was ist das? Was sind das für Geschöpfe? Wer hat sie hereingelassen?«
Menolly bereits auf dem Wege zur Treppe, drehte sich um. Ihr Ärger ließ nach, als sie die hilflose Angst in seiner Stimme vernahm. Ihre innere Wut hatte die Feuerechsen aufgescheucht, die sie in Gefahr glaubten und sich mit Geschrei auf Meister Morshai stürzten. Sie musste lachen, als sie hörte, wie eine schwere Tür ins Schloss schlug, doch im nächsten Moment bereute sie die Szene. Morshai war von nun an bestimmt ihr erbitterter Feind, eine Tatsache, die ihr das Leben in der Harfnerhalle nicht gerade erleichtern würde.Wie hatte T’gellan letzte Nacht gesagt? »Du hast von den Harfnern nichts zu befürchten!« Nun, zu befürchten hatte sie vielleicht nichts, aberVorsicht schien ihr durchaus angebracht. Vielleicht war es falsch gewesen, so mit ihrem Wissen zu glänzen. Das hatte ihn erzürnt. Aber sollte er nicht gerade ihren Wissensstand prüfen? Wieder kamen ihr Zweifel, ob die Harfnerhalle der richtige Ort für sie war. Wenn sich nun schon Mädchen einbilden... Sie hatte sich überhaupt nichts eingebildet. Die ganze Idee stammte von Meisterharfner Robinton, oder? Gehörten Meister Domick und Meister Morshai zu den konservativen Kräften, die Robinton erwähnt hatte? Selbst wenn sie in Zukunft vielleicht nicht viel mit ihnen zu tun hatte - sie spürte ihre Abwehr und Feindseligkeit.
Mit einem Seufzer wandte sie sich dem zweiten Treppenabsatz zu - und blieb stehen. Piemur wartete im Korridor, stocksteif, mit weit aufgerissenen Augen, und starrte die erregt flatternden Feuerechsen an. Faulpelz und Onkelchen hatten sich auf dem Geländer niedergelassen.
»Ich sehe doch keine Gespenster, oder?«, fragte er und beobachtete die beiden misstrauisch.
»Nein, bestimmt nicht. Der Braune heißt Faulpelz und der Blaue da ist Onkelchen.«
Seine Blicke folgten den anderen, die Menolly umkreisten, aber er gab es rasch auf, sie zu zählen. Dann landete die kleine Goldechse wie gewohnt auf Menollys Schulter.
»Das ist Prinzesschen, die Königin des Schwarms.«
»Wirklich?« Piemur starrte Menolly nach, während sie ins Erdgeschoss weiterging.
Prinzessin reckte den Hals, und ihre Augen kreisten ein wenig, als sie seinen Blick erwiderte. Plötzlich blinzelte sie und Piemur tat erschrocken das Gleiche. Menolly prustete los.
»Kein Wunder, dass Camo so verrückt nach ihr ist«, Dann schüttelte sich Piemur wie eine Feuerechse, die Meerwasser aus ihren Flügeln spritzt. »Ich sollte dich abholen und zu Meister Shonagar bringen.«
»Wer ist das schon wieder?« Menolly hatte genug von ihrer Begegnung mit Meister Morshai.
»Hat dich der alte Morschkopf geschunden? Mach dir nichts draus! Meister Shonagar wird dir gefallen. Er unterrichtet Gesang und ich gehöre in seine Abteilung. Er ist der netteste Lehrmeister von allen.« Piemur strahlte begeistert. »Und er hat gesagt, wenn du nur halb so gut singen kannst wie deine Echsen, dann bist du ein echter Gewinn.«
Er machte eine Pause und schielte Prinzessin an. »Glaubst du, sie mag mich?«
»Warum nicht?«
»Sie starrt mich so an und ihre Augen kreisen!«
»Du starrst sie aber auch an!«
Piemur schluckte und kicherte dann verlegen. »Das habe ich gar nicht gemerkt. Entschuldige, Prinzesschen. Ich weiß, so was gehört sich nicht, aber ich wollte schon immer eine Feuerechse sehen. He, Menolly komm!« Und er rannte über den Hof, als sei ihm sein Auftrag eben wieder eingefallen. »Du bist zwar neu hier,
aber lass dir gleich eines sagen: Kein Meister wartet gern. Und noch eines! Könntest du bitte deine Feuerechsen wegschicken? Meister Shonagar hat nämlich ausdrücklich erklärt, er wolle im Moment nur dich und
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