Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
Flüsse zogen rasch unter ihr entlang, während die Stadt am Himmel ihrer Bahn folgte. Plötzlich legte sich ein riesengroßer Schatten auf das grüne Land unter ihr, und unwillkürlich hob Sofia den Blick, um zu sehen, woher er kam. Doch die Sonne blendete sie und so konnte sie nichts erkennen.
» Was ist, Sofia? Willst du nicht endlich aufstehen?«
Kälte. An den Beinen und an den Schultern.
» Langsam hab ich es satt. Jeden Morgen muss ich zweimal zu dir hinauf und dich wecken. Die anderen Kinder sind alle schon unten.«
Sofia blinzelte. Die prächtige, vom Sonnenlicht durchflutete Stadt, der Flug, der riesige Schatten waren verschwunden. Wie immer hatte sie nur die weiße Zimmerdecke mit den feuchten Flecken über sich.
» Nun mach schon …«
Die hagere, spindeldürre Gestalt von Giovanna trat vor sie. Sie war eine alterslose Frau, vielleicht war sie auch schon alt auf die Welt gekommen. Bereits vor Sofias Geburt hatte sie in diesem Waisenhaus gearbeitet und kümmerte sich dort um alles, was anfiel. Sie wusch, bügelte, kochte. Es hieß, sie sei selbst eine Waise gewesen und als kleines Kind ins Haus gekommen, und hatte es nie wieder verlassen. Wenn Sofia sie betrachtete, dachte sie häufig, dass so vielleicht auch ihr eigenes Schicksal aussah: Sie würde in diesem Waisenhaus aufwachsen, Rom nur durch die Gitterstäbe des Eingangstores sehen und eines Tages ebenso verhärmt und sauertöpfisch wie Giovanna werden.
Und die anderen wurden auch nicht müde, ihr immer wieder alle Hoffnungen zu nehmen: » Mit dreizehn adoptiert dich niemand mehr. Da kannst du sicher sein. Du wirst für alle Zeiten hier drin bleiben«, hatte vor ein paar Tagen Marco gesagt, der sogar noch zu den netteren Jungen im Waisenhaus gehörte.
» Tut mir leid«, murmelte Sofia jetzt, während sie sich aufsetzte und aus dem Bett schwang. Sie zuckte kurz zusammen, als ihre nackten Füße die kalten Kacheln am Boden berührten.
» Tut mir leid, tut mir leid … das hör ich jeden Morgen von dir und am nächsten Tag muss ich dich doch wieder aus dem Bett schmeißen!«
Sofia machte sich nichts aus dem Geschimpfe. Das war eben Giovanna und das hatte sie schon häufig erlebt.
» Komm, geh dich waschen. Ich schaue inzwischen mal nach, ob ich noch ein Croissant für dich auftreiben kann.«
Auch das war Giovanna.
Sofia schlurfte zu den Waschräumen hinüber. Wenn es etwas Gutes hatte, später aus dem Bett zu kommen, dann dass sie so den Waschraum ganz für sich hatte. Sie mochte es, allein zu sein. Wäre sie gefragt worden, was sie an dem Leben im Waisenhaus am meisten störte, hätte sie » nie mal für sich sein zu können« geantwortet. Ständig war man von Leuten umringt. Man schlief zu zehnt in einem Zimmer, aß mit Dutzenden anderen im Speisesaal, lernte mit dreißig Schülern im Klassenraum und so weiter und so fort. Die einzige Möglichkeit, mal alleine zu sein, waren diese Minuten morgens im Waschraum.
Sie stellte sich an irgendein Becken, um sich zunächst mal das Gesicht zu waschen. Ein Blick in den Spiegel verriet ihr, dass ihre roten, krausen Haare wie befürchtet tatsächlich ein einziges zerzaustes Knäuel waren. Wegen dieser Haare nannten sie hier alle » Kürbis«. Sie betrachtete die Sommersprossen um ihre Nase herum und hoffte inständig, dass sie keine neuen entdecken würde. Diese Angst ging auf eine alte Geschichte zurück, die ihr, als sie fünf war, ein Junge im Waisenhaus erzählt hatte: Er kenne ein Mädchen, bei dem sich die Sommersprossen ständig vermehrt hätten, bis nicht nur das Gesicht, sondern auch ihr ganzer Körper davon übersät war. Ihre weiße Haut sei so dunkelrot geworden wie eine reife Tomate und so abstoßend, dass sie sich schließlich nicht mehr aus dem Haus getraut habe. Eigentlich wusste Sofia genau, dass diese Geschichte erfunden war und der Junge sie nur aufgezogen hatte. Dennoch ließ die Angst, dass es ihr ebenso ergehen könnte, sie seitdem nicht mehr los. Und es war mittlerweile wie ein Zwang, allmorgendlich das Gesicht prüfend im Spiegel zu betrachten. Leider, sagte sie sich traurig, gab es kaum etwas, gegen das sie sich richtig wehren konnte. Sie ließ sich von dieser blödsinnigen Geschichte ins Bockshorn jagen, litt außerdem unter dieser schon peinlichen Höhenangst und war das bevorzugte Opfer, wenn Nonnen oder Hauslehrer mal wieder einen Sündenbock brauchten. Und bei den anderen Waisenkindern sah es auch nicht besser aus: Sie traute sich nicht mal, mit den Allerjüngsten zu
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