Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
die alle gleich aussahen, aufgerissene Mäuler, die den Weg ins finstere Ungewisse freigaben. Sicher trat Lidja auf die zu, in der Sofia das Flackern erkannte, dem sie folgten.
Sie gelangten in einen anderen, nun viereckigen Raum mit zwei ziemlich niedrigen Türen und schwarz-weißen Mosaiken auf dem Fußboden. Entschlossen trat Lidja durch die gegenüberliegende Tür und ebenso durch die nächste und übernächste der zahllosen, hintereinander liegenden Räume, die sie durchquerten. Je weiter sie kamen, desto reicher waren die Wände mit Fresken geschmückt. Zunächst waren sie so verblichen und verwittert, dass die Darstellungen kaum zu erkennen waren, dann wurden die Farben nach und nach immer kräftiger, die Umrisse klarer. Es schienen Fresken aus römischer Zeit zu sein. Sofia erinnerte sich, solche Bilder in verschiedenen Geschichtsbüchern gesehen zu haben. Nur die Motive waren anders: Dargestellt waren keine kämpfenden wilden Tiere in einem Amphitheater, keine römischen Kaufleute in ihrer typischen Toga oder Matronen mit kunstvollen Frisuren, sondern Landschaften und vor allem Drachen. Herrliche Drachen in allen Farben, die durch die Lüfte glitten. Riesengroße schwarze Schlangen mit weit aufgesperrten Mäulern und hassverzerrten Fratzen störten jedoch hier und dort den Frieden, den diese Bilder ausstrahlten. Keine Frage, was das für Wesen waren: Lindwürmer.
Während sie diese Zimmerfluchten durchquerten, spürte Sofia, dass ihr die Atmosphäre dort irgendwie vertraut war. Dieser Ort schien irgendwie mit Drakonien zu tun zu haben. In ihren Erinnerungen war zwar nie eine verschüttete Villa aufgetaucht, doch nahm sie deutlich wahr, dass hier Drakonianer gelebt haben mussten. Und sie fragte sich, ob diese auch wiedererweckt wurden oder diese Fresken das Einzige waren, was von ihrem Leben übrig geblieben war. Der Weltenbaum allerdings war nirgendwo dargestellt, und es gab auch keine Hinweise auf die Sagenwelt der Drachen, von der der Professor erzählt hatte. Vielleicht wussten die Menschen, die hier gelebt hatten, nichts von Thuban und Nidhoggr, vielleicht hatten sie sogar nie etwas von ihrer besonderen Herkunft erfahren, und ihre Erinnerungen an eine Welt voller Drachen und schwebender weißer Städte waren über Generationen ohne Erklärung geblieben. Möglicherweise hatten sie sich lediglich nach dem Grund für jene leichte Sehnsucht gefragt, die sie hin und wieder ergriff, und keine Antwort gefunden. Und so hatten sie ohne Erinnerung an ihre Vergangenheit gelebt, hatten eine Art Zwischenexistenz geführt und sich deshalb nie irgendwo wirklich heimisch gefühlt. Aber war dieses Vergessen wirklich ein Fluch? Oder doch eher ein Segen? Keine Mission, die zu erfüllen war, keine Kräfte, die sich zu entfalten hatten. Diese Menschen hatten sich nicht mit ihren Fehlern und Schwächen auseinandersetzen müssen. Ihr normales, beschauliches Leben war vielleicht nur von dieser leichten Verstörung gestreift worden, die ihr Leben eher bereichert hatte, als es zu beinträchtigen. So dachte Sofia, während sie immer tiefer in die verschüttete Villa vordrangen und ihre Hände und Füße durch die Angst langsam kalt und taub wurden. Während sie die Wände betrachtete, überlegte sie, wie viele Menschen vor ihr wohl, ohne davon zu wissen, Thubans Herz in sich getragen hatten. Sie war überzeugt, dass es ein Glück für sie gewesen war. Denn sie waren nicht gezwungen gewesen, dem Drachen in sich nachzuspüren und ihn immer wieder anzuflehen, sich doch bitte zu zeigen und ihnen seine Kräfte zu verleihen, so wie sie selbst es gerade tat.
Irgendwann gelangten sie in einen größeren Saal, wo Lidja stehen blieb. Er war über und über mit Fresken verziert, und Sofia stockte der Atem, denn so etwas Wunderschönes hatte sie nur selten in ihrem Leben gesehen. Der ganze Raum war in Rot gehalten, das so unglaublich kraftvoll und lebendig wirkte, als habe es der Künstler gerade erst aufgetragen und sein Werk beendet. Auf scharlachrotem Grund zeichneten sich klar und hell die Figuren ab. Schlanke Frauen, in bunte, eng anliegende Tücher gehüllt, tanzten und verbanden sich zu kunstvollen Mustern. Satyrn mit lüsternen Mienen musizierten dazu und schienen gleichzeitig auf ihren Instrumenten den dramatischen Kampf zwischen Drachen und Lindwürmern zu begleiten. Die Leiber der mächtigen Tiere wanden sich wie im Rausch, umschlangen und verbissen sich mit ungeheurer Gewalt derart ineinander, dass grüne und schwarze Schuppen
Weitere Kostenlose Bücher