Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
Professor oder den Diener Thomas vor die Tür ging. Bereits dieser kleine Verstoß gegen die Anordnungen ihres Vormundes ließ ihr Herz schneller schlagen. Was, wenn der Monsterjunge ihr irgendwo auflauerte? Oder sogar etwas noch Fürchterlicheres draußen auf sie wartete?
Aber sie hatte den Entschluss gefasst, und es war zu spät, sich das Ganze noch einmal zu überlegen. Jetzt konnte sie nicht mehr zurück.
Ohrenbetäubend laut kam ihr das Knarren der Treppenstufen vor, und sie versuchte, sich so leicht wie möglich zu machen. Minuten brauchte sie, um hinunterzugelangen, aber schließlich stand sie vor der Tür.
Sie griff nach ihrem Mantel, der neben dem Eingang hing, und nahm allen Mut zusammen. Sie würde nicht zaudern. Aber kaum hatte sie die Klinke berührt, spürte sie den festen Griff einer Hand auf ihrem Mund. Sie röchelte, weil ihr die Luft wegblieb, doch die fremde Hand hinderte sie daran loszuschreien. Da sah sie Lidjas Augen. Die Freundin bedeutete ihr, still zu sein, öffnete dann die Tür und schlüpfte lautlos und geschmeidig wie eine Katze mit ihr hinaus.
Die Luft war eiskalt, und die Bäume schien ein Schauder zu durchlaufen, fast so als fröstelten sie. Hier und dort wirbelte Laub vom Boden auf. Es war, als brüte die Natur etwas aus. Endlich löste Lidja den Griff und stellte sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor Sofia hin. Sie trug ihren Wintermantel mit einem langen weinroten Schal und sogar eine Mütze auf dem Kopf. Offensichtlich hatte sie sich sorgfältig gegen die Kälte eines langen nächtlichen Spaziergangs gewappnet.
» Und nun?«, fragte sie und unterdrückte nur mühsam ein Lächeln.
Was für ein Reinfall. Bereits an der Haustür war Sofia abgefangen worden, noch bevor ihr waghalsiges Abenteuer überhaupt begonnen hatte. Sie überlegte, ob es Sinn hatte, sich rasch eine Ausrede einfallen zu lassen. Doch gerade als sie den Mund öffnete, fuhr ihr Lidja in die Parade.
» Zu zweit wäre es vielleicht verrückt, aber sich allein auf den Weg zu machen, ist einfach nur dumm. Dachtest du etwa, die Sache so mir nichts, dir nichts allein regeln zu können?«
Ausreden waren also überflüssig. » Wäre ich mutiger gewesen, hätten wir den Anhänger nicht verloren. Ich dachte, dass ich es euch schuldig bin, die Sache geradezurücken. Allein, ohne dich mit hineinzuziehen.«
Nur mit Mühe konnte sich Lidja ein spöttisches Lachen verkneifen. » Und wie gedachtest du, zu den Ruinen zu gelangen?«
» Na ja, als der Professor mich damals herbrachte, sind wir mit dem Bus gekommen. Vielleicht fährt ja spät abends noch einer.«
» Das glaubst du doch wohl selbst nicht.«
Sofia ließ die Schultern hängen. Lidja hatte recht. So genau hatte sie sich das gar nicht überlegt. Aus ihrer geplanten Heldentat würde nichts werden. Sie steckte die Hände in die Manteltasche. » Wirst du mich beim Professor verpfeifen?«
Lidjas Miene wurde ernst. » Nein, dein Plan ist zwar organisatorisch eine Katastrophe, aber eigentlich ganz richtig. Nur wirst du nicht alleine gehen, sondern mit mir zusammen.«
Sofia fühlte sich erleichtert und besorgt zugleich. » Es ist wirklich nicht nötig, dass du mitkommst! Alleine bin ich schneller.«
» Was redest du denn da? Du weißt doch noch nicht einmal, wie du da hinkommen sollst«, erwiderte Lidja. » Und außerdem könnte ich mir denken, dass die Feinde schon wieder auf der Lauer liegen. Wie willst du dich gegen die wehren? Du bist doch immer noch geschwächt. Und ich auch. Aber unsere Kräfte zusammen ergeben immerhin eine gesunde Kämpferin. Das heißt, wir müssen sie bündeln. Und außerdem kommst du nicht zu Fuß dorthin.«
Sofia nickte verwirrt.
» Aber das Transportproblem kann ich lösen …« Lidja schloss die Augen und schon erstrahlte das Mal auf ihrer Stirn in einem warmen rötlichen Licht. Nur wenige Sekunden dauerte es, dann begann sich auf ihrem Rücken langsam etwas zu formen. Flügel wuchsen ihr, dünne, durchscheinende Flügel, wie Sofia sie schon einmal gesehen hatte, aber nur in ihren Träumen, ihren Erinnerungen an das Goldene Zeitalter Drakoniens. Die Umrisse wirkten fast verschwommen, so wie bei einer nur angedeuteten Skizze, und ihre Beschaffenheit war ebenfalls seltsam, so biegsam und elastisch waren sie.
Lidja öffnete die Augen. Schweiß stand ihr auf der Stirn und ihr Gesicht war kreidebleich.
» Alles in Ordnung?«, fragte Sofia besorgt.
Lidja ging nicht darauf ein. » Was hältst du davon?«, fragte sie stattdessen. »
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