Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
Gestern Abend, als ich vor der Knospe saß, ist es zum ersten Mal passiert. Ich hab gar nichts tun müssen. Aber das ist Rastaban, Sofia, das sind Rastabans Flügel!«
Sofia blickte sie verzückt an, aber auch zweifelnd. Denn einen kurzen Augenblick fragte sie sich, ob der Professor nicht doch recht hatte und sie beide noch zu mitgenommen waren. Vielleicht war es vernünftiger, auf ihn zu hören und das zu tun, was er beschlossen hatte.
» Was ist? Was ist das denn für ein Gesicht?«, fragte Lidja verwirrt.
» Ich weiß nicht, glaubst du nicht, wir machen einen Fehler?«, gab Sofia ihre Zweifel offen zu. » Du siehst blass und erschöpft aus, vielleicht ist das ja wirklich zu viel für uns …«
Lidja schüttelte heftig den Kopf. » Was ist denn auf einmal los mit dir? Du wolltest doch sogar alleine los und jetzt hast du plötzlich wieder Angst vor der eigenen Courage. Aber mach dir keine Sorgen. Ich hab meine Vorkehrungen getroffen. Du warst nicht die Einzige, die mehr Zeit als eigentlich erlaubt unter der Knospe verbracht hat, und glaub mir, ich fühle mich stark und gesund. Außerdem hab ich keine Lust, jetzt einen Rückzieher zu machen.«
Sofia dachte an die Schutzbarriere um das Haus. Vielleicht war sie tatsächlich nur noch ganz schwach, weil sie beide die Strahlen der Knospe zu ausgiebig genutzt hatten. Es war schon seltsam, aber jetzt da sie tatsächlich aufbrechen konnten, war die Entschlossenheit verflogen, die sie vorhin noch gespürt hatte. Doch Lidja ließ sich nicht mehr umstimmen. Und sie hatte recht: Sie durfte jetzt nicht feige sein.
Trotzdem war ihr Vorhaben entsetzlich verkehrt, was Sofia erst jetzt so richtig klar wurde, als sie fröstelnd dastand und die verschränkten Arme und Schultern zusammenzog. Dennoch nickte sie.
» Wenn es schon sein muss, dann besser jetzt als gleich. «
Lidja schlang einen Arm um ihre Taille.
» Halt mich aber gut fest«, murmelte sie. Sie spürte, dass ihre Kehle ganz trocken war und Lidjas harmlose Geste schon genügte, dass ihr wieder verflucht schwindlig wurde.
» Wir schießen bestimmt los wie eine Rakete«, erwiderte Lidja mit einem unerschrockenen Lächeln, » du wirst sehen, nur eine Sekunde, und wir sind da.«
Sofia blickte auf das rötlich schimmernde Mal auf der Stirn ihrer Gefährtin, beobachtete, wie Lidja die Augen schloss und sich einen Moment sammelte. Sie spürte die Anspannung der Muskeln in dem Arm, der sie hielt, und sah, wie Lidja vor Anstrengung der Schweiß auf die Stirn trat. Und als sie abhoben, glaubte sie, in Ohnmacht zu fallen.
Lidja hielt sie gut fest. » Nicht runterschauen«, murmelte sie, und das ließ sich Sofia nicht zweimal sagen.
Der Flug dauerte nicht lang, doch Sofia schien er kein Ende nehmen zu wollen. Die kalte Nachtluft peitschte ihr Gesicht, und alles war fast so, wie sie es oft geträumt hatte. Was fehlte, war dieses Gefühl der Leichtigkeit, das jedes nächtliche Abenteuer begleitet hatte. Zu wissen, dass unter ihr erst gähnende Leere war, dann das spitze Geäst der Bäume und schließlich scharfkantiges, hartes Gestein, erfüllte sie mit panischer Angst.
Hin und wieder sank Lidja ein wenig ab und jedes Mal konnte Sofia einen entsetzten Schrei nicht unterdrücken.
» Keine Panik, es läuft wunderbar. Aber du solltest vielleicht mal eine Diät machen«, versuchte die Freundin zu scherzen. Beim Sprechen keuchte sie und Sofia spürte ihren gemächlichen, mühsamen Flügelschlag.
» Und wenn wir zu Fuß weitergehen?«, schlug sie vor, wobei sie den Kopf nur ein klein wenig von Lidjas Brust löste.
» Kommt nicht infrage, wir sind ja gleich da. Und außerdem ist der Blick von hier oben wirklich fantastisch.«
Kurz darauf landeten sie in der Nähe einer abgelegenen, menschenleeren Straße, jenseits eines Wellblechtores, das nur wie durch ein Wunder noch nicht umgefallen war. Die Hände auf die Knie gestützt, stand Lidja gebückt da und versuchte, zu Atem zu kommen.
Besorgt sah Sofia sie an. » Wir hätten vielleicht doch nicht fliegen sollen …«
» Jetzt halt doch endlich mal den Mund«, fuhr Lidja sie an. » Wenn ich mich nicht irre, war es doch deine Idee, es alleine zu versuchen. Also hör auf herumzujammern und konzentrier dich auf das, was wir vorhaben.«
Sofia seufzte. Das Abenteuer schien ihr unter keinem guten Stern zu stehen. Während Lidja sich langsam erholte, blickte sie sich um. Von der Mondsichel nur schwach beleuchtet, erhob sich vor ihnen ein sanfter Hügel mit einer Wiese.
Lidja kramte in
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