Drachenschwester 01 - Thubans Vermächtnis
Buch ihres Lebens, zwischen den immergleichen Seiten, hatte sich plötzlich etwas Neues aufgetan: eine weiße Seite.
2
Die Fee am Flussufer
Mattia trat gegen die Blechdose am Boden, die scheppernd an einer Straßenlaterne landete.
» Genau das, was sie mit mir gemacht haben « , dachte der Junge zornig. Wie auf einer Fußmatte war man auf ihm herumgetrampelt, und er versuchte jetzt, die Tränen zurückzuhalten. Aber es gelang ihm nicht. In regelmäßigen Abständen musste er sie aus den Augenwinkeln wischen, bevor sie sich von dort lösen und ihm das demütigende Gefühl bescheren konnten, dass er weinte.
Alles hatte im Sportunterricht begonnen. Mit den besten Vorsätzen war er mit seinem Sportbeutel in die Umkleidekabine hinuntergegangen. Ja, okay, ein Spaß waren die Stunden vorher auch nicht gewesen, aber das war alles nichts Neues. Die Pause hatte er auch wieder abseits von den anderen zugebracht, und als Pausenbrot gab es diese verdammten Cracker, die seine Mutter ihm immer einpackte. » Diese süßen Snacks bestehen doch nur aus Chemie und Zucker, und du weißt ja, was der Arzt gesagt hat: Du musst abnehmen.«
Aber erklär das mal den anderen Jungen in der Klasse, die alle mit den üblichen Süßigkeiten oder Chipstüten ausgerüstet in die Schule kamen. Es war schon schwierig genug, gute Noten zu bekommen, ohne als langweiliger Streber abgestempelt zu werden. Aber natürlich war es geradezu unmöglich, nicht auf den Arm genommen zu werden, wenn man mit solch mickrigen Diätcrackern in der Klasse auftauchte, auch noch » ungesalzen«, wie in großen Buchstaben auf der Packung stand.
Anfangs, als er die Kabine betrat, hatte ihn noch niemand beachtet, sodass er sich still und leise in einer Ecke umziehen konnte. Er hasste seine Klassenkameraden. Alle. Schlank und sportlich, wie sie waren, mit ihren Markensportschuhen und den angesagtesten Trainingsanzügen. Er aber holte aus seiner Sporttasche ein abgetragenes T-Shirt mit Micky Maus vorne drauf und eine verblichene Turnhose hervor.
Entmutigt zog er die Sachen an, wie ein Märtyrer bereits darauf gefasst, in der Halle von Valeria und den anderen Mädchen gleich wieder die bekannten spöttischen Blicke zu ernten. » Schweinchen« nannten sie ihn und er konnte es ihnen nicht verdenken. Dass er fett war, wusste er ja, und in dieser kurzen Hose sah er tatsächlich wie ein Schweinchen aus. Ein lächerlicher Anblick, wie seine speckigen Oberschenkel unter dem Stoff hervorschauten.
Erst in dem Moment, als er zum T-Shirt griff, hatte er es bemerkt: Es war groß, gigantisch, unmöglich zu verbergen. Und in der Tat dauerte es kaum eine halbe Sekunde, bis auch die anderen es sahen. Ein Loch.
» Was hast du denn da? Micky Maus mit drei Ohren?«
» Schaut euch mal dieses Loch an!«
» Klar, das ist ein Mauseloch. Micky Maus mit Mauselöchern!«, rief einer der Jungen, wobei er Mattia das T-Shirt aus der Hand riss, um es einem anderen zuzuwerfen.
Wie peinlich! Das hatte gerade noch gefehlt. Immer wieder hatte Mattia seiner Mutter erklärt, dass er einen richtigen Trainingsanzug brauche, doch sie war nicht zu erweichen gewesen. » Wir können unser Geld nicht zum Fenster rausschmeißen. Das Shirt ist doch vollkommen in Ordnung. Du ziehst es doch ohnehin nur zweimal in der Woche an. Und zum Reinschwitzen ist es einfach ideal.«
Das grölende Gelächter seiner Klassenkameraden dröhnte ihm immer noch in den Ohren. Natürlich hatte er versucht, der peinlichen Situation ein Ende zu machen, mit dem Ergebnis, dass er wie ein Volltrottel in der Kabine von einer Wand zur anderen rannte, während sich die Jungen johlend das T-Shirt zuwarfen.
» Die Stunde hat schon angefangen. Jetzt kommt endlich …!«
Damit endete der unerfreuliche Vorfall. Das Shirt landete auf dem Boden und die anderen waren in ihren Marken-Trikots und in bester Stimmung aus der Umkleidekabine gestürmt. Als Mattia das Shirt aufhob, war aus dem Loch ein breiter Riss geworden.
Den traurigen Höhepunkt dieses Tages erlebte Mattia allerdings erst am Ende der Stunde. Um dem Spott seiner Mitschüler zu entgehen, hatte er sich freiwillig zum Aufräumen der Halle gemeldet und sich als Letzter in die Umkleidekabine aufgemacht. Zuvor hatte ihn aber noch der Sportlehrer einen Moment zur Seite genommen und ihm ausdrücklich ans Herz gelegt, das nächste Mal in einem ordentlichen Trainingsanzug zu erscheinen. Die Miene, die er dabei aufgesetzt hatte, war fast noch demütigender gewesen als der Spott der
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