Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
können? Du und ich, wir können das doch auch!«
Gerun schob sich nach hinten und glitt über das breite Hinterteil des Wallachs auf den Boden. Das war eine ungewöhnliche Art des Absteigens, aber sie wollte um keinen Preis den Elf berühren, der noch immer mit untergeschlagenen Beinen auf dem Widerrist des Pferdes saß.
»Das hier«, sie holte in weiter Geste aus, »ist also schon ein Teil der Anderswelt, stimmt es? Du hast uns mit Absicht hergeführt, Nuffl! Ausgerechnet zu den Nornen! Wem gefällt es nicht, wie die drei Frauen ihr Garn spinnen? Wem setzen sie die Schere zu oft an? Wem bereiten die Knoten im Garn Bauchschmerzen? Warum bin ich überhaupt noch hier?«
»Das verstehst du nicht!« Der Elf schob seinen Hut zwischen den spitzen Ohren ein wenig hin und her.
»Ach nein? Dann lass’ mich in Ruhe! Ich gehe jetzt und bringe den Nornen ihr Frühstück, wenn ich schon einmal hierbleiben muss!« Sie drehte sich um und stapfte mit festen Schritten auf das Haus zu.
»Warte!« Nuffl faltete seine Flügel auseinander und startete hastig. Dabei wäre ihm beinahe der wedelnde Schweif des Pferdes zum Verhängnis geworden. Nur haarscharf entkam er dem peitschenden Rosshaar. Er kam ins Trudeln und landete mit ausgestreckten Armen auf Geruns Rücken.
»Autsch!«, schrie sie auf, während Nuffl sich an ihren Flechten zu ihrer Schulter hocharbeitete. »Geh’ sofort von mir runter!«
Dieser Aufforderung kam der Elf nicht nach, im Gegenteil. Er setzte sich auf Geruns Schulter und ließ die Beine auf ihre Brust herabbaumeln.
»Also gut!«, sagte er. »Es gibt da kein höheres Wesen, einen Gott oder übermächtigen Weltenlenker, der mir befohlen hat, dich und Nadif zu retten! Das habe ich ganz allein und aus freien Stücken entschieden! Bleib’ stehen! Du darfst mich nicht mit zu den Nornen in die Spinnstube nehmen!«
»Du hast also aus purer Liebe zu menschlichen Wesen gehandelt! Bewundernswert! Und warum sollen die Nornen dich nicht sehen?« Unverdrossen hielt sie weiter auf das Haus zu, obwohl sie ihre Schritte etwas zügelte.
»Nein, nein, nein! Bleib’ doch endlich stehen! Die Nornen können mich sehen! Sie dürfen nicht wissen, dass ich hier bin!«
Gerun hielt inne. »Was ist das nur für ein Theater mit dir, Nuffl! Jetzt der Reihe nach: Warum sollen diese netten alten Frauen nicht erfahren, dass sich ein Elf hier herumtreibt?«
»Oh! Du erbarmungslose Menschin! Also gut! Es ist meine Aufgabe, auf die Nornen achtzugeben. Niemand soll ihr Garn verwirren. Es passiert halt immer wieder, dass die Kakteen den Weg ungeplant freigeben, es sind halt dumme Pflanzen. Dann geraten Menschen in die Oase, und für gewöhnlich machen Menschen nichts als Ärger! Die Nornen glauben allerdings, die Welten, für die sie die Fäden spinnen, hätten ihre Existenz längst vergessen. Das macht die Frauen zufrieden und glücklich. Es gab nämlich auch Zeiten, in denen sie bedrängt und bedroht wurden, weil irgendjemand sein Schicksal geändert haben wollte.«
Gerun runzelte die Stirn. »Das ist nicht ganz schlüssig. Ich habe nur begriffen, dass du dafür sorgen sollst, dass die Nornen in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen können. Aber warum bin ich hier? Die Frauen können sich ihre Suppe auch selbst aus der Küche holen. Zubereiten müssen sie ihre Speisen ja nicht!«
»Du? Äh, ich musste halt irgendeinen Menschen finden, der mir hilft!« Nuffl rieb sich verlegen die Knollennase. »Es gibt da eine Sache … Nun ja, die Kakteen können nicht jeden Eindringling zurückhalten. Wenn da etwas durch die Luft fliegt und hier landet …«
»Nuffl! Was willst du von mir? Du willst eine Gegenleistung dafür, dass du uns das Leben gerettet hast. Das ist in Ordnung, das verstehe ich. Aber wenn du nicht gleich mit der Sprache herausrückst, was ich für dich tun soll, packe ich dich an deinen hässlichen Flügeln und werfe dich in den See!«
»Undankbare Menschin!«, fauchte der Elf. »Nun gut! Siehst du dort hinten das Elsternest auf dem hohen Silbereichenbaum? Ja? Die Biester sind einfach hier eingeflogen und haben sich häuslich niedergelassen.«
»Ja, und? Die Vögel stören die Nornen doch nicht!«
»Doch, doch, doch! Die Elstern haben Fäden von den Nornen gestohlen! Schicksalsfäden! Diese blöden Flattertiere bauen Schicksalsfäden in ihr Nest ein!«
Gerun hob ratlos ihre Schultern und brachte Nuffls Sitzplatz damit gefährlich ins Schwanken.
»Ja, verstehst du denn nicht, du begriffsstutziges Weibsstück? Diese Fäden können
Weitere Kostenlose Bücher