Drachenspeise: 1 (Ein Märchen für große Mädchen) (German Edition)
das die Vogelfrau, denn im Nest lag ein grünes Ei mit braunen Sprenkeln.
»Du willst dein Baby nicht aus den Augen lassen, was?«, flüsterte Gerun und schlang ihre Beine um den dicken Ast, damit sie sich darauf bis zum Nest vorschieben konnte. Nun konnte sie bequem hineingreifen. Bedächtig löste sie eine Hand von dem Ast und hob sie langsam an. Die Elster legte den Kopf schief.
»Wirf endlich das Nest herunter!«, hörte Gerun Nuffl weit unter sich kreischen. »Nun mach schon! Wirf es herunter!«
»Das werde ich nicht tun!« Gerun versuchte, dem Vogel, der sich noch immer nicht von der Stelle rührte, in die unergründlichen Augen zu sehen. Hier in dieser Oase gab es Töpfe, die nie leer wurden und Kakteen, die spazieren gingen, warum sollte es nicht möglich sein, dass die Elster verstand, was Gerun sagte?
»Ich werde ganz vorsichtig die Fäden aus deinem Nest nehmen, versprochen! Deinem Ei wird nichts passieren!« Sie schob ihre Hand ins Innere des Nestes und erwartete eigentlich, dass ihr der Vogel seinen Schnabel in die Finger rammte. Aber die Elster sträubte nur die Federn und hielt den Blick weiterhin unverwandt auf Gerun gerichtet.
»Siehst du, da habe ich schon ein Stück Garn! Und hier gleich das nächste!« Bedächtig zupfte sie die Fäden aus der Brutstatt. Dann fiel ihr ein, dass ihr Unterkleidchen ja keine Taschen hatte, in denen sie die Garnstücke hätte bergen können. Kurzerhand löste sie todesmutig auch ihre linke Hand von dem Ast und knotete die faserigen Enden zusammen. So knüpfte sie dünne weiße und dicke braune Fäden zusammen, kurze Stückchen, kaum einen Finger lang, mit einem meterlangen hauchfeinem Zwirn, zauselig verfilztes Werg mit kunstvoll verzwirbelten Garn. Das Ganze wickelte sie unter den wachsamen Augen der Elster zu einem Knäuel auf.
»Was machst du dort oben?«, heulte unten Nuffl. Die Elster, die ihn verfolgt hatte, kreischte voller Triumph auf. Offenbar steckte der Elf in Schwierigkeiten. Gerun ließ sich nicht irritieren und betastete suchend Zweige und Moos, ob sie nicht vielleicht doch ein Schicksalsfädchen im Nest übersehen hatte.
»Jetzt kannst du in Ruhe weiter brüten!« Gerun nickte der Elster am Rande des Nestes zu und holte weit aus, um das Garnknäuel aus der Krone der Silbereiche heraus zu werfen. Sie hatte keine Ahnung, wo es landen würde, aber anders wusste sie sich nicht zu helfen. Beinahe hätte sie die Balance auf dem schwankenden Ast verloren. Hastig umklammerte sie mit beiden Händen wieder die raue Rinde und begann, nach hinten in Richtung des Stammes zu rutschen.
Der Abstieg dauerte lange, eine Unendlichkeit, wie es Gerun schien. Endlich spürte sie das Kitzeln der Grashalme unter ihren nackten Fußsohlen. Aufatmend ließ sie sich fallen und blieb eine ganze Weile lang ausgestreckt auf der Wiese liegen. Jetzt erst spürte sie, wie die Muskeln in ihren Armen und Beinen von der Anstrengung vibrierten.
Als das Beben in ihren Gliedern nachließ, richtete sie sich auf.
»Nuffl?«, rief sie. Der Elf war verdächtig still geworden. Ihm war doch nicht etwa etwas passiert?
»Hier bin ich!«, klang es kläglich ganz aus der Nähe. Gerun sah sich verwundert um. Erst als sie das Schnarren einer Elster hörte, entdeckte sie die Höhlung im Stamm der Silbereiche. Auf dem Aststumpf vor diesem Loch saß der schwarz und weiß gefiederte Vogel und wippte zufrieden mit dem Schwanz.
»Ups!« Gerun hielt sich die Hand vor den Mund, um nicht laut aufzulachen. Sie stand auf und ging zu dem Baum. Das Loch befand sich in der Höhe, die ein Mann gerade noch mit den Händen erreichen konnte, Gerun musste ihren Kopf in den Nacken legen, um hinaufzusehen.
»Du kannst jetzt getrost wieder hinauffliegen zu deinem Nest!«, sagte sie zu der Elster. »Nuffl wird euch nicht mehr ärgern!«
Die Elster schnarrte erneut und flog tatsächlich auf. Ganz vorsichtig steckte Nuffl den Kopf aus der Höhle.
»Ist das Ungeheuer fort?«
»Du kannst bedenkenlos herauskommen!« Gerun zupfte sich einige Blätter der Eiche aus dem Haar und strich ihr Unterkleid glatt, bevor sie sich nach ihren Stiefeln und Strümpfen bückte. Sie streifte sich schon ihr Gewand wieder über, als Nuffl sich endlich aus seiner Zuflucht quetschte und neben ihr ziemlich unsanft auf den Boden klatschte, weil es ihm in der geringen Höhe nicht gelungen war, die Flügel rechtzeitig zu entfalten.
»Wo ist das Nest?«, grummelte er und klopfte seinen Hut aus. »Ich fürchte, in dem Loch war das Kobel eines
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