Drachenspiele - Roman
Arme aus, versuchte sich zu orientieren, mit kleinen Schritten zur Badezimmertür zu gelangen und fürchtete, jeden Augenblick in ein Gesicht oder menschlichen Körper zu greifen.
Ein kurzer Aufschrei, ein stechender Schmerz an Stirn und Nase. Er war gegen den Türrahmen gestoÃen. Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen und schmeckte Blut.
»Vorsicht, Herr Leibovitz. Tun Sie sich nicht weh.«
Die Stimme kam aus seinem Zimmer, der Mann saà entweder am Schreibtisch oder auf dem Sofa daneben. Er sprach Mandarin mit einem Akzent, den Paul Beijing und Umgebung zuordnete.
Er tastete sich vorsichtig aus dem Bad heraus, an der Wand entlang, bis er im Durchgang zum Schlafzimmer stand. Sie
hatten den Raum mit den schweren Fenstervorhängen völlig abgedunkelt, selbst die digitale Uhr am Fernseher hatte jemand abgeklebt. Rechts, ein paar Meter vor ihm, musste das groÃe Bett stehen, gegenüber die Kommode mit der Minibar, dahinter der Schreibtisch, daneben die Sitzecke mit dem Sofa. Er hörte den Atem mehrerer Menschen.
»Am besten, Sie bleiben, wo Sie sind«, sagte die Stimme aus der Dunkelheit. Sie klang nicht unfreundlich, fast besorgt. »Ich möchte nicht, dass Sie sich verletzen.«
Paul fühlte, wie er etwas ruhiger wurde. »Wer sind Sie?«
»Ein Freund.«
»Dann machen Sie das Licht wieder an.«
»Ein Freund, der lieber unerkannt bleiben möchte.«
Als Paul nicht antwortete, fügte er hinzu: »Ein Freund, der Sie davor bewahren wird, eine Dummheit zu begehen.«
»Was für eine Dummheit?«
»Dinge an die Ãffentlichkeit zu bringen, die nicht an die Ãffentlichkeit gehören.«
»Wer sagt â¦Â«
»Ein Freund, der weiÃ, welche Konsequenzen das hätte. Konsequenzen, die Sie gar nicht absehen können«, unterbrach ihn eine Stimme, die nicht den Anschein erweckte, als würde sie Widerspruch dulden.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte Paul eingeschüchtert.
»Die Dokumente, die Herr Wang Ihnen gegeben hat.«
»Warum haben Sie die nicht ihm abgenommen?«
»Weil wir nicht sicher waren, ob sie sich in seinem Besitz befanden. AuÃerdem wollen wir nicht mit der Pressefreiheit in Konflikt geraten.«
Paul merkte, dass der Fremde sich über seine eigene Bemerkung amüsierte, und fragte: »Was machen Sie mit den Papieren?«
»Das soll nicht Ihre Sorge sein.«
Paul zögerte. Welche Optionen blieben ihm? Er hatte keine Ahnung, wie viele Menschen sich in seinem Zimmer befanden. Die Flurtür versperrte vermutlich der Knoblauchliebhaber. Er könnte um Hilfe schreien, wäre aber wahrscheinlich überwältigt, bevor ihn jemand hören würde.
»Diese Papiere ⦠ich kann sie nicht ⦠sie sind extrem wichtig«, stammelte er.
»Deshalb will ich sie haben«, erwiderte die Stimme ruhig.
»Woher kommen Sie? Aus Beijing?«
»Sie stellen zu viele Fragen.«
»Wer schickt Sie?«
»Auch nichts, worüber Sie sich Gedanken machen sollten.«
»Sanlitun?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht.«
»Wer sonst könnte Interesse an den Unterlagen haben?« Möglicherweise konnte er den Mann in ein Gespräch verwickeln und Zeit gewinnen.
»Viele Menschen.
Weit ist das Netz des Himmels.
So groà die Maschen.
Dennoch entgeht ihnen nichts.
Das wusste schon Lao Tse.«
»Ich weià nicht, was Sie meinen«, erwiderte Paul.
»Auch die Provinzregierung in Hangzhou könnte sich für diese Dokumente interessieren. Der Bürgermeister von Yiwu. Ganz bestimmt auch ein Konkurrent von Sanlitun. Was meinen Sie? Oder die Umweltbehörde in Beijing. Mir fielen noch mehr ein. Kennen Sie die Lieblingsfarbe der Chinesen?«
»Rot«, erwiderte Paul flüsternd.
»Ich sehe, Sie kennen sich aus in unserem Land«, fuhr
der Unbekannte mit höhnischem Unterton fort. »Rot bringt uns Glück. Unsere Lieblingsfarbe aber ist Grau. In diesem Land ist alles grau. Wir sind die Meister der Grauzonen. Dort kennen wir uns aus. Alles ist möglich. Nichts ist unmöglich. Bei uns sind die Dinge selten so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen. Leider habe ich keine Zeit, dieses Gespräch zu vertiefen. Vielleicht bei einer anderen Gelegenheit. Mein Kollege an der Tür wird Ihnen jetzt mit einer kleinen Taschenlampe kurz Licht machen. Sie holen die Papiere aus dem Bad und werfen sie aufs Bett. Dann legen Sie sich rechts
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