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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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das Buch, setzte sich zu Min Fang aufs Bett, schaute im Inhaltsverzeichnis nach, schlug das Hexagramm sechsunddreißig auf und begann laut zu lesen:
    Â»MING I - DIE VERFINSTERUNG DES LICHTS
    In Zeiten der Finsternis gilt es, vorsichtig und zurückhaltend zu sein. Nicht durch rücksichtsloses Auftreten soll man sich nutzlos übermächtige Feindschaft zuziehen.«
    Da Long ließ das Buch wieder sinken. Hatte sie ihm den Kopf zugewandt, oder bildete er sich das ein? Versuchte sie, ihm ein Zeichen zu geben?
    Â»Min Fang?« Er betrachtete seine Frau. Ihre versteiften Glieder, die unter der dünnen Decke hervorlugten. Die verkrüppelten Hände. Der halb geöffnete Mund, aus dem keine Worte mehr den Weg zu ihm fanden. Er beugte sich über sie und schaute ihr in die Augen. Tiefbraun. Starrer Blick. Er bewegte langsam seinen Kopf in der Hoffnung, sie möge ihm folgen. Ihre Pupillen reagierten nicht. »Min Fang? Hörst du mich?«

    Mein liebster Da Long. Den Kopf gedreht, einen Finger breit vielleicht. Zu mehr reicht meine Kraft nicht. Wenn ich dir doch wenigstens in die Augen blicken könnte. Nur noch einmal. Ich habe jedes Wort verstanden. Sie wissen, was sie anrichten. Sie haben es immer gewusst. Sie zwingen uns, Dinge zu tun, die wir nicht tun sollten. So machen wir uns mit ihnen gemein und verraten das Schöne. Ich weiß keinen Ausweg. Könnte ich meinem Leben selber ein Ende bereiten, würde ich es tun. Aber es geht nicht, dazu bräuchte ich deine Hilfe. Ich kann mich nicht einmal mehr selbst töten. Wie soll ich mich verständlich machen? Wenn ich doch wenigstens meine Hände bewegen könnte. Einen Stift nehmen und dir aufschreiben, was ich sagen will. Oder es dir vorsingen. Summen. Hauchen.
    Nichts davon ist mir möglich. Eine Gefangene. Wie nutzlos. Wenn ich nicht mehr bin, musst du meinetwegen niemanden verklagen. Wenn ich nicht mehr bin, kannst du zu Yin-Yin nach Shanghai ziehen. Wenn ich nicht mehr bin …
    Sie bewegte sich nicht, er musste sich getäuscht haben. Da Long las die Zeilen ein zweites Mal.
    In Zeiten der Finsternis sollte man vorsichtig und zurückhaltend sein. Kein Vorschlag, mit dem er in diesem Augenblick etwas anzufangen wusste. Zog er sich nutzlos übermächtige Feindschaft zu? Übermächtig ja, aber nutzlos? Was sollte er tun? Unterschreiben, dass seine Frau an ihrem Zustand im Grunde selber schuld sei? Was für ein Ansinnen. Die Infamie, die dahinter steckte. Es war Erpressung, kalte, kalkulierte Niedertracht. Welche Möglichkeiten blieben ihm? Diesen Brief konnte er nicht schreiben, selbst wenn er gewollt hätte. Alles in ihm revoltierte gegen den Gedanken. Gleichzeitig zweifelte er nicht daran, dass sie ihre Drohung wahr machen und Yin-Yin vor Gericht stellen würden. Es war
wie in einem aussichtslosen Go-Spiel: Der Gegner trieb ihn Zug um Zug in die Enge. Er war eingeschlossen, seine weißen Steine umzingelt, der Ring um ihn wurde enger, ein Ausbruch unmöglich. Egal, wie oft und aus welcher Perspektive er das Brett betrachtete.
    Nur ein seichtes Gewässer ist der Fluss, der Leben und Tod voneinander trennt.
    Sag mir, Da Long, kann man einen Menschen mehr lieben als sich selbst? Ist das unser Geheimnis? Wir blieben uns selbst treu, indem wir dem geliebten Anderen treu blieben. Wohin führt uns das jetzt? Wir müssen uns trennen. Ich geh voraus, und du wirst mir folgen. Später. Ich werde dich erwarten. Geduldig. Lass mich los. Lass mich gehen.
    Da Long suchte weiter im I Ging nach Zeilen, die ihm helfen könnten. »Die Zeit ist schwer«, las er mit lauter Stimme gegen die Stille an. Gleichzeitig beobachtete er aus den Augenwinkeln Min Fang, ob sie ihm nicht doch ein Zeichen gab. Ein kleines wenigstens. »Rastlos muss man ohne bleibende Stätte weitereilen. Wenn man nicht innerliche Kompromisse machen will, sondern seinen Grundsätzen treu bleiben, so kommt man in Mangel.«
    Waren das die Sätze, die er gesucht hatte? Rastlos muss man ohne bleibende Stätte weitereilen. In Zeiten der Finsternis. Aber wohin?
    Es gab kein Ziel und keinen Ort der Zuflucht. Sie hatten nur dieses eine Haus. Nur dieses Leben. Er hatte das Gefühl, am Ende eines langen Marsches angekommen zu sein. Ein Wanderer, den sein Weg bis auf die äußerste Klippenspitze einer Landzunge geführt hatte. Unter ihm toste das Meer. Ein Zurück gab es nicht.

    Selbstverständlich hatte Xiao Hu Recht. Wer immer

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