Drachenspiele - Roman
sagen konnte, auÃer, dass sie einer Macht gegenüberstanden, der sie sich beugen mussten. Dass er sich getäuscht hatte, dass es ihm leidtat, je etwas anderes gedacht zu haben.
Der runde Eingang, das ächzende Holztor. Die Wäsche im Hof war abgenommen, sie lag zusammengelegt in einem Bambuskorb auf der Veranda. Der Boden war sauber gefegt, kein Blatt, kein Reisig, keine Zigarettenkippe lag herum.
»Da Long«, rief Paul. Keine Antwort. »Da Long?« Fragend. »Da Long«, wiederholte er noch einmal, nun lauter.
Jetzt erst sah Paul, dass weder die Tür noch ein Fenster offen standen, so konnte Da Long ihn gar nicht hören. Er stieg die Stufen zur Veranda hoch, klopfte, wollte die Tür öffnen. Sie war verschlossen. Er versuchte, einen Blick durch die Fenster zu werfen, aber sie waren noch gründlicher als sonst mit Tüchern abgehängt. Nicht einmal einen Spalt konnte er finden.
»Da Long?« Sein Rufen wurde dringender. Er schaute in den Schuppen, er ging ums Haus zur Küche, doch auch diese Tür war zugesperrt. Paul lief zurück zum Eingang, kniete sich hin und versuchte, durch das Schlüsselloch zu spähen. Viel konnte er im dämmrigen Licht nicht sehen. Einen Stuhl, ein Teil des Tisches, auf dem etwas lag, was Paul aus seinem Winkel nicht erkennen konnte. Papiere? Dokumente? Ein aufgeschlagenes Buch? Auszüge aus Min Fangs Krankenunterlagen? Wer mochte Da Long abgeholt haben? Hatte er keine Zeit gehabt, ihn anzurufen, oder hatte jemand ihm das Mobiltelefon abgenommen? Was war mit Min Fang geschehen? Sie konnten sie unmöglich allein zurückgelassen haben. Wohin hatten sie die beiden gebracht? Wer kümmerte sich um sie? Er schritt den Innenhof noch einmal ab, suchte nach Spuren im Sand. Abdrücke von Männerstiefeln. Rollen von einem Krankenbett. Papierfetzen, irgendein Zeichen, das Da Long ihm hinterlassen haben könnte. Paul sah nichts als feinen, braunen, gleichmäÃig gefegten Sand.
XVIII
Er hatte sein Leben im Schutz ihrer Liebe verbracht. NeununddreiÃig Jahre, sieben Monate und zwölf Tage.
Jeden davon hatten sie gemeinsam verlebt. Ihre Kinder lächelten insgeheim darüber. Er wusste das. Sie hielten ihre Eltern für genügsame Menschen. Vielleicht hatten sie Recht. Vielleicht war es ein Zeichen von Genügsamkeit und Einfalt, wenn man sich ein Leben ohne den anderen nicht vorzustellen vermochte. Vielleicht aber auch nicht. Min Fang glaubte, das Gegenteil sei der Fall. Sie war der Meinung, es wäre der höchste aller Ansprüche, das Glück mit nur einem Menschen finden zu wollen.
Der Schutz ihrer Liebe. Er hatte ihn davor bewahrt, sich selbst zu verachten. Der lange Schatten eines feuchten, viel zu heiÃen Herbsttages. Jugendliches Getrampel auf hölzernen Stufen. Eine dunkelrote Flüssigkeit, die aus einem Mund rinnt, über Steine flieÃt, in einer Fuge versickert und doch für immer Spuren hinterlässt.
Du warst ein Kind. Du wusstest nicht, was du tatest. Ihre Worte. So oft, so überzeugend ausgesprochen, dass Da Long sie am Ende glaubte. Aber wohin mit dem Kind? Es war ja kein anderer Mensch, es war fremd und unheimlich, jedoch Teil von ihm. Wie gut kann man mit einem Verräter in sich leben? Wer hat den Mut und die Kraft, sich zu verzeihen? Nicht zu verdrängen, nicht zu vergessen. Sich selbst zu vergeben. Ihm war es mit ihrer Hilfe gelungen. Halbwegs. Was sie ihm nicht nehmen konnte, war eine tief empfundene Scham, in einem entscheidenden Moment seines Lebens Unrecht getan zu haben. Diese Scham würde ihn bis in die letzte Stunde verfolgen.
Er stand auf, ging zum Bücherregal und suchte nach einem
Buch. Seit seinem wortlosen Abschied von Paul waren fast zwei Stunden vergangen, und Da Long wusste nicht, was er in dieser Zeit gemacht hatte. Er musste wie betäubt am Esstisch gesessen haben, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Nun kam er langsam wieder zu sich und brauchte Rat. Mit Min Fang konnte er nicht sprechen, mit Yin-Yin auch nicht. Er suchte ihn in der alten, zerlesenen Ausgabe des I Ging. Das Buch der Wandlungen . Min Fang und er hatten das Orakelbuch über die Jahre regelmäÃig konsultiert, sich oft daraus vorgelesen, so wie andere in buddhistischen, konfuzianischen oder christlichen Schriften Trost oder Beistand fanden. Aus dem I Ging sprachen viele tausend Jahre chinesische Weisheit, es war ihm in jeder schwierigen Lebenslage eine Hilfe gewesen.
Er nahm
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