Drachenspiele - Roman
nicht. Xiao Hu hat erfahren, dass Sanlitun sie wegen Verleumdung auf Schadensersatz verklagen will.«
Da Long wippte mechanisch mit dem Oberkörper hin und her. Paul hatte das Gefühl, dass er ihm immer weiter entglitt. Als säÃe er einem Menschen gegenüber, dessen Lebensgeister sich vor seinen Augen verflüchtigten.
»Xiao Hu setzt sich sehr für sie ein. Er hat erreicht, dass
Sanlitun bereit ist, auf die Klage zu verzichten. Der Konzern ist sogar willens, euch mit etwas Geld zu unterstützen.«
»W-w-was verlangen sie dafür?«
»Dass Yin-Yin alle Vorwürfe zurücknimmt und sich entschuldigt. Du musst auf jeden Versuch verzichten, Sanlitun rechtlich zu belangen. Jetzt und in Zukunft.«
»Was geschieht, wenn ich das nicht mache?«
»Das kann ich dir nicht sagen. Xiao Hu glaubt, dass Yin-Yin für einige Jahre ins Gefängnis muss und finanziell ruiniert wäre.«
Das Violinkonzert war zu Ende, von drauÃen drang gedämpft der Lärm der Autobahn zu ihnen. Min Fang atmete laut, Da Long gab wieder für lange Zeit keinen Ton von sich.
»Da Long?«, fragte Paul vorsichtig. Was mochte in ihm vorgehen? Woran dachte er?
Schweigen.
»Vielleicht gibt es noch eine andere Lösung.«
Schweigen.
»Ich meine ⦠also ich bin nachher mit Wang, dem ehemaligen Klassenkameraden von Yin-Yin, verabredet. Du erinnerst dich vielleicht, wir haben ihn bei meinem letzten Besuch in Yiwu getroffen, Yin-Yin und ich.«
Schweigen.
»Also, ich habe Hinweise bekommen, dass er unter Umständen etwas hat, was uns helfen könnte.« Weil Da Long noch immer nicht antwortete, redete Paul einfach weiter. Es war ihm egal, was er sagen würde, er sprach aus, was ihm in den Sinn kam, er redete und redete, nur um die Stille nicht ertragen zu müssen. »Ich weià natürlich nicht, was das sein kann. Ein Augenzeuge? Vielleicht, warum nicht? Ich meine, Wang ist schlieÃlich Journalist, er kennt sich in der Gegend gut aus. Er ist Lokalreporter, die haben immer die besten
Kontakte. Das weià ich aus eigener Erfahrung, also, davon leben sie. Warum soll er die nicht für uns nutzen? Bestimmt war er in Yin-Yin einmal verliebt und will uns nun helfen. Er scheint ein verdammt anständiger Kerl zu sein. Was meinst du? Alles anonym, versteht sich. Wir wollen ihm ja keine Schwierigkeiten machen. Oder er kann uns Namen und Nummern von Kontaktleuten geben, die uns weiterhelfen. In Beijing vielleicht. Ich, ich könnte morgen schon dort sein und mit ihnen reden. Kein Problem. Ich kann nichts versprechen, natürlich nicht, wie sollte ich, du weiÃt schon. Alles ist möglich. Wir sind noch nicht am Ende, wir â¦Â« Paul holte Luft. »Da Long?«
Schweigen.
»Da Long, hörst du, was ich sage?«
Er reagierte nicht.
Paul hielt es nicht mehr auf seinem Stuhl. Er stand auf, ging um den Tisch, wollte Da Long berühren, ihn in den Arm nehmen, irgendetwas tun, um den Schmerz zu lindern, doch er traute sich nicht. Er legte die Hand auf seine Schulter, zog sie jedoch sogleich wieder zurück. Es gab keinen Trost. Paul hatte es am eigenen Leib erfahren, und wer in solchen Momenten versuchte, trotzdem Trost zu spenden, anstatt die stille Ohnmacht zu ertragen, war dumm oder unehrlich und feige.
Paul machte ein paar Schritte auf Min Fang zu, blieb dann aber in der Mitte des Raumes stehen. Sein Blick wanderte durch das Zimmer. Auf das Bett fielen durch einen Riss im Vorhang einige Strahlen der tief stehenden Sonne, in denen Staubkörner tanzten. Darunter lag ein schmutziges Bettlaken. Der Geruch von Krankheit und Einsamkeit. Ein Wartezimmer des Todes. Er fühlte sich so hilflos, dass ihm Tränen in die Augen stiegen. »Da Long«, sagte er mit brüchiger
Stimme, »kann ich etwas für dich tun? Sag doch etwas.« Keine Antwort. Er ging zurück zum Tisch und hockte sich vor Da Long in der Hoffnung, er möge ihn anschauen. Er wollte ihm in die Augen sehen, doch die waren geradeaus gerichtet, der Blick verlor sich in der Dämmerung. »Ich fahre jetzt«, sagte Paul laut und deutlich, »nach Yiwu. Ich bin morgen früh wieder da. Bist du einverstanden?«
Es hatte keinen Sinn, er redete zu einem Menschen, dem es die Sprache verschlagen hatte. Er wollte gehen, wagte es jedoch aus irgendeinem Grund nicht, den beiden den Rücken zuzudrehen. Als fürchte er, sie könnten sich, sobald er sie aus den Augen lieÃ, auflösen.
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