Drachenspiele - Roman
hatte er einen Brief und auf ihn Das Buch der Wandlungen gelegt und das dreiunddreiÃigste Hexagramm aufgeschlagen: »Wo man seinen Weg so klar und zweifellos vor sich sieht, stellt sich eine heitere Fassung ein, die das Rechte ohne jedes Bedenken wählt.«
Er ging in die Küche, schloss die Tür und schob die Handtücher davor. Propan wog schwerer als Luft, es würde wassergleich aus der Gasflasche flieÃen und sich zunächst auf dem Boden verteilen, deshalb mussten die Türen am unteren Ende besonders dicht sein.
Er drehte die Musik leiser, bis sie nicht mehr zu hören war; Min Fang hatte es immer gehasst, wenn er ein Stück abrupt mit einem Knopfdruck unterbrach, anstatt es langsam ausklingen zu lassen. Er lieà die CD mit Yin-Yins Schubert-Einspielung noch einmal von vorn beginnen.
Da Long legte sich neben Min Fang, drehte sie auf die Seite, so dass ihr rechter Arm unter seinem Kopf lag und sein linker unter ihrem. Für eine Weile lagen sie da, ohne sich zu rühren. Sein Herz pochte wild vor Aufregung, und er spürte auch das ihre. Allmählich beruhigten sie sich. Er nahm sich Zeit, als warte er darauf, dass sich ihre Körper noch einmal vereinten, bevor sie Abschied nahmen. Er griff hinter sich und öffnete die Flasche. Leise, mit einem gleichmäÃigen Rauschen,
strömte das Gas aus. Er rückte näher an seine Frau. Bauch an Bauch, Nase an Nase. Ihr warmer Atem in seinem Gesicht. Ihr wunderschöner, kräftiger Körper. Ihre Brüste, die zwei Kinder genährt hatten. Ihr Lachen. Ihr Gesang. Ihre Freude an den kleinen Dingen, die er erst hatte lernen müssen. Das war Min Fang vor dem Gift. Mit ihr im Arm würde er einschlafen. Es dämmerte. Die Welt versank. Ihm fielen die Augen zu. Im Schutz ihrer Liebe.
Schlafenszeit. Ohne Angst. Zu gehen, ohne Reue. Ohne Gram. Frei. Dank dir.
Du schlieÃt die Augen, ich kann es nicht sehen, spüre es aber. Dein Herz pocht langsamer, die Abstände zwischen den Schlägen werden gröÃer. Wirst du vor mir gehen? Warte auf deine Frau, nimm mich mit.
Des Abends sterben, das ist nicht schlimm, sagt Konfuzius. Hier liegen wir. Tief im Abendrot. Wandermüde. Hand in Hand.
Ist dies etwa der Tod?
XIX
Xiao Hu betrachtete seine Eltern oder genauer das, was von ihnen übrig geblieben war: zwei Hände voll grauschwarzer Asche in schmucklosen Urnen aus dunkelbraunem Holz. Er hatte eigentlich darauf bestehen wollen, dass ihre Ãberreste in ein und dasselbe Gefäà kommen, war jedoch belehrt worden, dass das aus rechtlichen Gründen nicht möglich sei, und hatte deshalb zwei Urnen mit nach Hause nehmen müssen. Die standen nun geöffnet vor ihm auf dem Esstisch. Im Zimmer lag ein leichter Geruch von erkaltetem Feuer, aber vielleicht bildete er sich das auch ein.
Xiao Hu umfasste mit beiden Händen die Urne seines Vaters, stand auf und begann vorsichtig, dessen Asche mit der seiner Mutter zu vereinen. Eine winzige, feine Staubwolke stieg aus dem Topf empor und legte sich wie ein dünner Film ringsum auf die gläserne Tischplatte. Einen Augenblick lang wusste Xiao Hu nicht, was er machen sollte. Er konnte die Reste seines Vaters unmöglich mit einem feuchten Tuch wegwischen. SchlieÃlich holte er eine Kreditkarte aus der Tasche, schob die Asche sorgfältig zu einem kleinen Häufchen zusammen, bugsierte sie auf ein Blatt Papier und lieà sie in die Urne rieseln. Er verschloss den Deckel, hielt das Gefäà unsicher in den Händen, begann zu schütteln, zaghaft zunächst, dann etwas heftiger. Seine Eltern waren gestorben, wie sie gelebt hatten, dachte Xiao Hu, ihre Ruhe konnten sie nur in einem gemeinsamen Behälter finden. Er stellte die Urne auf ein Regal neben den Fernseher, legte für jeden eine Orange, das Lieblingsobst seiner Mutter, als Opfergaben davor, zündete ein paar Räucherstäbchen an und verneigte sich mehrmals. Er wollte sie bei sich behalten, bis Yin-Yin und er entschieden hatten, ob sie die Asche lieber verstreuen oder beisetzen wollten. Eine Frage, über die er sich noch keine
Gedanken gemacht hatte. Der Tod war bis vor zwei Wochen kein Thema gewesen, das ihn sonderlich bewegte. Weder sein eigener noch der anderer. Um über seine Endlichkeit nachzudenken, fühlte er sich zu jung, vom Verlust eines geliebten Menschen war er bisher verschont geblieben. Nun traf er ihn gleich doppelt und mit einer Wucht, die Xiao Hu selbst
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