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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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entscheiden? Für sich selbst hatte er keine Zweifel. Er war ein freier Mensch, zumindest in dieser Hinsicht. Da Long beugte sich über seine Frau und küsste ihr die Stirn, den Mund, den Hals. Schob sie behutsam zur Seite, legte sich neben sie. Er nahm das Buch vom Nachttisch, schlug das Hexagramm dreiunddreißig auf und las vor:
    Â»DUN - DER RÜCKZUG

    Die Verhältnisse sind so, dass die feindlichen Kräfte, durch die Zeit begünstigt, im Vorrücken sind. In diesem Fall ist der Rückzug das Richtige, und eben durch den Rückzug erlangt man Gelingen. Der Erfolg besteht darin, dass man den Rückzug richtig auszuführen vermag. Rückzug ist nicht zu verwechseln mit Flucht. Rückzug ist ein Zeichen von Stärke. Man darf den rechten Moment nicht versäumen, solange man in vollem Besitz von Kraft und Stellung ist.«
    Jetzt begreife ich erst, was du planst. Bist du dir sicher? Hast du alles bedacht? Es steht nicht in meiner Macht, dich umzustimmen. Ich wünschte, du ließest mich alleine gehen. Du bist zu jung. Du bist gesund.
    Draußen war die Dämmerung angebrochen. Da Long erhob sich, ging hinaus, setzte sich auf die Treppenstufen und zündete eine Zigarette an. Es war ein milder, angenehmer Abend, es gab keinen schöneren Monat als den Mai. Noch nicht so heiß und feucht wie der Sommer, nicht mehr so kalt wie der Winter, den er von Jahr zu Jahr schmerzhafter in den Knochen spürte. Auf dem Dach des Schuppens zirpte ein Vogel, die Autobahn rauschte. In der Ferne hörte er einen Güterzug.
    Gab es eine Alternative? Natürlich, dachte er, die gab es immer, jedoch keine, die er wählen wollte. Er war müde, unendlich müde. Wenn das Wasser aus dem See nach unten geflossen ist …
    Als der Vogel verstummte, erhob sich Da Long und räumte das Haus auf. Wischte den Boden, nahm die Wäsche von der Leine und legte sie sorgfältig zusammen, sammelte Zigarettenkippen ein, fegte gründlich den Hof. Es sollte nicht aussehen, als hätten sie ihr Haus Hals über Kopf verlassen,
auch wenn das mit Min Fang in ihrem Zustand ohnehin unmöglich war. Sie befanden sich nicht auf der Flucht. Sie zogen sich zurück, und wenn »man den Rückzug richtig auszuführen vermag«, ist er »ein Zeichen von Stärke«. So stand es im I Ging . So empfand es Da Long.
    Er suchte im Schrank nach dem weißen Nachthemd, das Yin-Yin ihrer Mutter vor einigen Jahren von einer Reise nach Beijing mitgebracht hatte. Die langen Ärmel waren mit Rüschen verziert, die Brust mit einer Schleife und wunderschönen Perlmuttstickereien geschmückt. Min Fang hatte beim Auspacken verlegen gelacht und gesagt, dafür sei sie doch viel zu alt, und Yin-Yin hatte ihr heftig widersprochen. Und dann hatte Min Fang es doch so lange und oft getragen, dass sie es irgendwann in den Schrank legte, weil der Stoff dünner wurde und sie fürchtete, es würde sich vom vielen Tragen und Waschen verschleißen. Er roch daran und hoffte, an dem Nachthemd noch etwas von ihrem Duft zu finden, aber es roch nur nach Waschpulver und Schrank. Wie groß es jetzt gegen ihren ausgemergelten Körper wirkte. Er hatte Mühe, es ihr überzuziehen. Die steifen Arme und Beine. Am Ende nahm er eine Schere und weitete mit einem Schnitt auf der Rückseite den Kragen. Er kämmte ihr die dünnen grauen Haare, nahm eine Spange und steckte sie fest. So hatte Min Fang ihr Haar gerne getragen. Er wusch ihr das Gesicht, Finger und Fußnägel hatte er erst vor einigen Tagen geschnitten. »Beim Rückzug handelt es sich beim höheren Menschen darum, dass er in aller Freundlichkeit und gerne Abschied nimmt.«
    Da Long schob vorsichtig die Arme unter seine Frau und trug sie zum Sofa. Dann nahm er die schwere Matratze und schleppte sie quer durch den Raum zur Küche. Sie passte genau zwischen Wand und Herd. Er holte die Musikanlage und stellte sie auf die Ablage neben der Spüle.

    Er hörte Min Fang röcheln und beeilte sich. Er zog eine saubere Hose an und seine alte Lieblingsjacke aus braunem Cord, die Min Fang schon so oft an den Ellenbogen geflickt hatte.
    Da Long trug seine Frau in die Küche, legte sie auf ihre Matratze und schob ihr ein Kissen unter den Kopf. Eine Gelassenheit, wie er sie seit Monaten nicht mehr gespürt hatte, erfüllte ihn. Ein letztes Mal ging er durch die Wohnung. Die Haustür war abgesperrt, die Fenster verhängt. Auf den Tisch

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