Drachenspiele - Roman
der Ming-Dynastie stammte, in der Untertanen den gefährlichen Weg in die Hauptstadt auf sich nahmen, um bei der kaiserlichen Verwaltung Hilfe gegen korrupte Beamte zu erflehen. Dieses Recht hatte die KP nach der Revolution zwar in die Verfassung aufgenommen, aber Xiao Hu wusste, dass es vor allem auf dem Papier existierte. Wer es in Anspruch nahm, musste mit Schikanen oder Schlimmerem rechnen. Trotzdem hatte er den Gerüchten über geheime Gefängnisse nicht glauben wollen.
Jeder Tag, der verstrich, ohne dass er etwas von Yin-Yin hörte, verschlimmerte seine Unsicherheit.
Es war die Angst um seine Schwester, das Gefühl, etwas für sie tun zu müssen, gemischt mit einer stetig wachsenden Wut über das Unrecht, das man ihr antat, die in diesen Tagen, in denen er sich selbst entglitt, in ihm einen Plan reifen lieÃen. Nicht über Nacht. Nicht von einer Stunde zur anderen, sondern langsam, fast unmerklich. Er hatte in der Changle Lu in einem Café gesessen, und plötzlich war eine Idee über ihn gekommen. Sie war nicht das Ergebnis angestrengten Ãberlegens, sie flog ihn an wie ein Virus, das den Menschen befällt und sich in ihm ausbreitet, ohne dass er es gleich bemerkt. Aus dem Einfall wurde ein Gedankenspiel, wurde ein Plan, der für Xiao Hu so ungeheuerlich war, dass er zunächst nicht glauben mochte, dass er ihn erdacht hatte.
Er wollte fortsetzen, was seine Schwester begonnen hatte. Wenn der Tod der Eltern kein Anlass für ihre Freilassung war, wenn seine Beziehungen ohne Wirkung blieben, dann half nur noch öffentlicher Druck, und den konnte in China nur das Internet erzeugen. Yin-Yins Text hatte ihm Paul Leibovitz aus Hongkong per Post geschickt. Er wollte ihn ergänzen und erneut im Internet veröffentlichen, sich dabei jedoch
geschickter anstellen. Keine Spuren hinterlassen. Keine E-Mails zu dem Thema. Keine Recherchen von seinem Computer aus. Er würde seinen Laptop anschlieÃend verschwinden lassen, damit man ihn bei einer möglichen Hausdurchsuchung nicht beschlagnahmen und dann auf der Festplatte gelöschte Dateien finden konnte. Er würde sich eine Liste von mehr als drei Dutzend Webseiten, Internetforen, Chatrooms und Blogs machen und den Text unter falschem Namen und falschem Absender ins Netz stellen. Er wusste, nach welchen Stichwörtern und Wendungen die Internetpolizei fahndete; die würde er vermeiden und konnte hoffen, damit die Sicherheitsbehörden auszutricksen. Ein paar Stunden wenigstens, mit etwas Glück vielleicht sogar einige Tage. Das könnte genügen, so seine Rechnung, um den Leserkreis und die Verbreitung in einem MaÃe zu erweitern, eine kritische Masse zu erreichen, die es der Zensur sehr schwer machen würde, noch einzuschreiten.
Er verwarf den Plan als zu riskant, lenkte sich in Cafés mit Zeitschriften und zu Hause mit Fernsehen ab - und entwickelte ihn auf langen Spaziergängen weiter. Er stand in der Dunkelheit vor Yin-Yins Haus und starrte zu ihrem unbeleuchteten Fenster hinauf. Er hielt Zwiesprache mit seiner Mutter, die ihn an die Verantwortung erinnerte, die auf ihm als älterem Bruder lag. Eine Ruhelosigkeit bemächtigte sich seiner, die es ihm zunehmend unmöglich machte, in der Wohnung still zu sitzen. Er wanderte zwischen Küche und Wohnzimmer hin und her, las dabei wahllos im Buch der Wandlungen und entdeckte zu seinem Erstaunen mehr und mehr Sätze, die sein Interesse weckten: »Fördernd ist die Beharrlichkeit eines einsamen Menschen.« Er blätterte weiter. »Gewohnheit des Gefährlichen bewirkt leicht, dass die Gefahr ins eigene Wesen eingeht. Man weià Bescheid und gewöhnt
sich ans Böse. Damit hat man den rechten Weg verloren, und Unheil ist die natürliche Folge.«
Xiao Hu schüttelte den Kopf. Er hatte sich nicht ans Böse gewöhnt. Er hatte es nicht einmal wahrgenommen.
»Wenn du wahrhaftig bist, so hast du im Herzen Gelingen, und was du tust, hat Erfolg.«
Wahrhaftigkeit im Herzen. Eine dieser Formulierungen, deretwegen er das Buch früher als altertümlich belächelt hatte. Nun klang sie in ihm nach, fast wie ein Echo. Wahrhaftig. Was müsste er jetzt tun, um wahrhaftig zu sein? Was war ihm wichtig, wenn er alles um sich herum vergaÃ, wenn er sich nicht ablenken lieÃ, wenn er sich, einer Zwiebel gleich, Schicht um Schicht entblätterte und zu seinem innersten Wesen vordrang? Yin-Yin. Kleine Schwester. GroÃer
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