Drachenspiele - Roman
überfällig war. Was mochten die letzten Gedanken seines Vaters gewesen sein? Starb er verbittert? Verzweifelt? Als ein Getriebener, oder war es ihm innerlich leicht gefallen, »weil er auf diese Weise seiner Ãberzeugung keine Gewalt anzutun brauchte«? War das die versteckte Botschaft? Je länger Xiao Hu darüber nachdachte, desto mehr verspürte er, bei aller Trauer, eine Art Respekt für die Konsequenz, mit der sein Vater sich dem Ansinnen widersetzt hatte, das die Partei, Sanlitun oder wer immer auch dahinter stecken mochte, an ihn gestellt hatten. Er bewunderte diesen Mut, es kehrte eine Achtung zurück, von der er geglaubt hatte, sie sei für immer verloren.
Schlimm war die Einsamkeit. Sie überfiel ihn besonders
am Abend und nachts. Die ungewohnte Leere, die er empfand. Der übliche Strom an Gedanken und Plänen, der sonst durch seinen Kopf ging, war versiegt. In ihm herrschte eine eigentümliche Ruhe, wie er sie zuvor nur in ganz seltenen Momenten erlebt hatte. Der Schmerz, die Trauer waren stärker, als er es für möglich gehalten hätte. Da Long und er hatten sich entfremdet, seit Monaten kaum noch ein Wort gewechselt, bei seiner Mutter war er überzeugt gewesen, dass sie es nicht einmal mehr wahrnahm, wenn er an ihrem Bett stand. An eine Kommunikation mit ihr, in welcher Form auch immer, war gar nicht zu denken gewesen. In seinem Alltag hatten beide schon lange keine Rolle mehr gespielt. Und doch fehlten sie ihm. Ihr Verlust hatte ein Loch, eine klaffende Wunde in sein Denken und Fühlen gerissen. Xiao Hu dachte an die gemeinsamen Abendessen in seiner Kindheit. Von den vier Menschen, die oft schweigend am Tisch gesessen und hastig gegessen hatten, war nur er geblieben. Zwei waren tot, wo seine Schwester war, wusste er nicht. Vielleicht war es die Endgültigkeit, die ihn so unvorbereitet traf. Die ungesagten Sätze, die nicht gestellten Fragen. Alles Dinge, die er in den vergangenen Jahren vernachlässigt hatte in dem Glauben, dafür gäbe es, sollten sie ihm zu einem Bedürfnis werden, noch Zeit genug.
Xiao Hu fühlte sich auf befremdliche Art schutzlos. Er war nicht sicher, ob das mit dem Tod der Eltern zusammenhing oder mit der Festnahme seiner Schwester. Bald drei Wochen waren vergangen, und er wusste noch immer nicht, was mit ihr geschehen war. Spurlos verschwunden. Xiao Hu hatte geglaubt, so etwas passiere nur armen Bauern in den abgelegenen Provinzen, die sich nicht zu wehren wussten, niemals aber der Schwester eines Parteikaders mittleren Ranges in Shanghai. Drei Wochen ohne jeden Kontakt zu ihr - das
hatte es in seinem Leben noch nicht gegeben. Er hatte herumtelefoniert, Parteifreunde zum Essen eingeladen, alle seine Kontakte bemüht, sogar mit seinem Chef gesprochen, dessen Beziehungen bis ins Justizministerium nach Beijing reichten. Der hatte versprochen, sich zu kümmern, und zwei Tage später nur kurz mitteilen lassen, er habe nichts erreicht. Ohne Erklärung, ohne Bedauern. Er hatte versucht, den Parteisekretär zu erreichen, der ihn vernommen und ihm das Ultimatum gestellt hatte. Ohne Erfolg. Nach dem Tod der Eltern war er ein paar Tage lang überzeugt gewesen, es könne sich nur noch um Stunden handeln, bis er seine Schwester wiedersehen würde. Wer immer sie festhielt, würde nach diesem Verlust ein Einsehen haben.
Manchmal beschlich ihn die Furcht, Yin-Yin könnte etwas zugestoÃen sein. Vielleicht hatte jemand beim Verhör zu hart zugeschlagen. Dann würde es heiÃen, sie sei unglücklich gestürzt und mit dem Kopf an einer Tischkante aufgeprallt. Er wusste, dass das hin und wieder geschah. Doch nicht ihm. Nicht seiner Schwester. Nur den anderen. Immer nur den anderen.
Die Kraft des Schattigen.
Xiao Hu kannte die Gerüchte über geheime Gefängnisse, in denen Menschen, die sich in ihrer Verzweiflung mit Petitionen an die Regierung gewandt hatten, angeblich Tage, Wochen oder Monate lang gefangen gehalten wurden. Bauern, denen ihr Land ohne oder gegen eine viel zu geringe Entschädigung genommen wurde. Wanderarbeiter, die von Fabrikbesitzern um ihren Lohn geprellt, Frauen, deren Männer von der Polizei misshandelt worden waren. Bürger, die keine Hoffnung hatten, auf juristischem Weg zu ihrem Recht zu kommen. Sie reisten in die Provinzhauptstädte oder gleich nach Beijing, um in eigens dafür eingerichteten Büros Gerechtigkeit
zu erbitten - eine Tradition, die noch aus der Zeit
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