Drachenspiele - Roman
überraschte.
Nicht einmal einen Abschiedsbrief hatten sie hinterlassen. Keine Zeile. Nach dem Anruf von Paul Leibovitz war er sofort nach Yiwu gefahren; bevor sie die Polizei verständigten, durchsuchten sie gemeinsam das Haus, ohne etwas zu finden. Nur Das Buch der Wandlungen lag aufgeschlagen auf dem Tisch. Das dreiunddreiÃigste Hexagramm: »DUN - DER RÃCKZUG. Die Kraft des Schattigen ist im Aufsteigen begriffen.« Was war damit gemeint? Im ersten Moment erschien ihm sein Vater im Tod so rätselhaft wie im Leben.
»Beim Rückzug handelt es sich beim höheren Menschen darum, dass er in aller Freundlichkeit und gerne Abschied nimmt. Der Rückzug fällt ihm auch innerlich leicht, weil er auf diese Weise seiner Ãberzeugung keine Gewalt anzutun braucht ⦠Die Lage ist unzweideutig. Die innere Loslösung ist eine feststehende Tatsache. Dadurch hat man die Freiheit, zu gehen. Wo man seinen Weg so klar und zweifellos vor sich sieht, stellt sich eine heitere Fassung ein, die das Rechte ohne jedes Bedenken wählt. Ein solch klarer Weg führt stets zum Guten.«
Als Xiao Hu diese Zeilen im Halbdunkel der elterlichen Wohnung las, verstand er kein Wort. Er hatte Min Fang und Da Long häufiger das I Ging studieren sehen, er wusste, dass sie es als Ratgeber schätzten; später hatte er selber darin gelesen, doch mit den verschlüsselten Botschaften des Orakelbuchs, mit seiner altertümlichen Sprache voller Metaphern,
konnte er kaum etwas anfangen. Was wollte sein Vater ihm und Yin-Yin mit diesem Text sagen? Dass Mama und er gern oder zumindest heiteren Gemütes gestorben sind? Sollte das die Kinder trösten? Wie konnte ihr Tod zu etwas Gutem führen? Was bedeutete die »Die Kraft des Schattigen«? Sie hatte in seinem Leben bisher keine Rolle gespielt. Die Kraft des Lichtes, ja. Die Kraft des Aufstiegs. Die Kraft des positiven Wandels. Die Kraft des Alles-ist-möglich-es-gibt-keine-Grenzen. Nicht die Kraft des Schattigen.
Sollte das alles sein, was sie je an Erklärungen bekommen würden? Sein Vater war keiner gewesen, der sein Herz auf der Zunge trug, Fremden begegnete er verschlossen, selbst seinen Kindern gegenüber blieb er oft stumm. Aber dass er aus dem Leben ging, ohne Abschied von ihnen zu nehmen, ohne persönliche Sätze an sie zu richten, das konnte Xiao Hu nicht begreifen. Es kränkte und verletzte ihn. Was erst würde seine Schwester sagen?
Er hatte eine Vorahnung gehabt. Den ganzen Morgen. Als er die Nummer von Paul Leibovitz auf seinem Bildschirm leuchten sah, traute er sich kaum, das Gespräch anzunehmen. Die belegte Stimme. »Xiao Hu, es tut mir leid â¦Â« Schweigen. Zähe, ewig lange Sekunden, in denen er das Unheil spürte, bevor es ausgesprochen war.
In den Tagen danach funktionierte er. Ging ins Büro, leitete Besprechungen, organisierte die Einäscherung, nahm die flüchtigen Beileidsbekundungen seiner Kollegen entgegen. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, neben sich zu stehen. Als lebe er das Leben eines anderen.
Seit der Kremation vor zwei Wochen ging es ihm von Tag zu Tag schlechter. Er schlief unruhig, aà kaum etwas, wachte nachts schweiÃgebadet auf, fühlte sich erschöpft wie nie zuvor in seinem Leben. SchlieÃlich meldete er sich krank, ohne
sagen zu können, woran er eigentlich litt. Er schob Magen-Darm-Probleme vor und zögerte mit immer neuen Ausreden seine Rückkehr ins Büro hinaus.
Die ersten beiden Tage verbrachte er in einer Art komatösem Zustand im Bett. Ein Wandler zwischen Welten, der vom Schlaf in einen eigentümlichen, dösenden Schwebezustand verfiel, für kurze Phasen erwachte, um dann zurück in die Dämmerung zu gleiten. Den Klang der StraÃe - hupende Autos, Motorengeräusche, Fahrradklingeln, Menschenstimmen - vernahm er nur gedämpft, als käme er aus einer anderen Wirklichkeit. Er hörte Handys, das Läuten an der Wohnungstür, Flüstern, Rufe und wusste nicht, ob er sich all das nur einbildete. Er träumte aberwitzige Geschichten von sprechenden Fischen, fliegenden Katzen, die nur Bananen aÃen, und seiner Mutter, der es plötzlich besser ging, die jedoch nicht wieder redete, sondern quakte. Wie eine Kröte.
Als das zu laut wurde und nicht aufhören wollte, stand er auf. Zog sich an, streifte ziellos durch die Stadt. Er verbrachte Stunden in Cafés, unruhig, wie ein wartender Mensch, dessen Verabredung lange
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