Drachenspiele - Roman
ihn jetzt unter Druck setzte, Sanlitun oder die Behörden in Yiwu oder Hangzhou, hatte die Macht, und er besaà nichts auÃer seiner Unbeugsamkeit. Starrsinnig würde man ihn nennen. Was kostete es schon, so ein Papier zu unterschreiben? Es würde helfen, seine Tochter zu befreien, und den Zustand Min Fangs nicht verschlimmern, ganz im Gegenteil. Mit der kleinen Entschädigung könnte er versuchen, ihre Pflege zu verbessern. Was hatte er dem entgegenzusetzen?
Da Long schlug die Nummer siebenundvierzig auf und räusperte sich:
»KUN - DIE BEDRÃNGNIS (DIE ERSCHÃPFUNG)
Notzeiten sind das Gegenteil von Erfolg. Aber sie können zu Erfolg führen, wenn sie den rechten Menschen treffen. Wenn ein starker Mensch in Not kommt, so bleibt er trotz aller Gefahr heiter, und diese Heiterkeit ist die Grundlage späterer Erfolge. Sie ist die Beständigkeit, die stärker ist als das Schicksal. Wer sich durch Erschöpfung innerlich brechen lässt, der hat freilich keinen Erfolg.«
Da Long las die Zeilen noch einmal und noch einmal. Wer sich durch Erschöpfung innerlich brechen lässt, der hat freilich keinen Erfolg. »Min Fang«, sagte er, »bin ich das? Ein gebrochener Mensch? Kein starker? Nein, nicht mehr. Vielleicht nie gewesen. Ich weiÃ, du würdest mir jetzt widersprechen; wenn du könntest. Aber ein starker Mensch hätte niemandem von den Geheimnissen erzählt, die unter dem KüchenfuÃboden lauerten. Ein starker Mensch hätte die Lügen damals durchschaut und nicht erst Jahre später. Ein starker Mensch hätte seine Mutter und seine Schwester gesucht. Hätte sich von seinem Sohn keine Vorwürfe machen lassen. Min Fang, verzeih mir. Ich weià nicht, was ich machen soll. Es ist zu viel. Sie richten uns zu Grunde, und ich weià nicht einmal,
wer sie sind. Wer hat Yin-Yin in seiner Gewalt? Wer stellt uns diese Bedingungen? Gegen wen wehren wir uns? Warum wagen sie sich nicht aus ihren Verstecken und zeigen ihre Gesichter? Wir hatten geglaubt, die Zeiten der Finsternis gehörten der Vergangenheit an. Wir hatten geglaubt, in einer Neuen Zeit zu leben. Nur weil die Städte neue Gesichter haben. Weil Autos auf den StraÃen die Fahrräder verdrängen. Weil unsere Kinder studieren durften. Tausend groÃe und kleine Weils, und deshalb haben wir uns vom äuÃeren Schein täuschen lassen. Haben uns gerne den verführerischen Versprechungen einer neuen Zeit hingegeben. Einer Zeit, in der wir keinen Platz haben. Jetzt habe ich keine Kraft mehr. Kannst du das verstehen? Was für eine Frage! Entschuldige, ich bin verwirrt. Was sage ich? Es ist die Einsamkeit, die mich so sprechen lässt. Du fehlst mir so. Warum können wir nicht einfach verschwinden? Uns davonstehlen. In Luft auflösen, wie der Qualm der Räucherstäbchen auf dem Altar unserer Ahnen.«
Warum liest du nicht weiter? Die Antwort, die du suchst, findest du in den nächsten Zeilen. Ich kenne KUN auswendig. Wir haben es gemeinsam gelesen. Mehrfach. Notzeiten waren uns vertraut. In Bedrängnis waren wir oft. »Wenn das Wasser aus dem See nach unten geflossen ist, muss der See vertrocknen und sich erschöpfen. Das ist Schicksal. In solchen Zeiten lässt sich nichts tun, als dass man sein Schicksal auf sich nimmt und sich selbst treu bleibt. Das aber ist die tiefste Schicht unseres eigentlichen Wesens.« Zu der sind wir vorgestoÃen, Da Long. Zur tiefsten Schicht. Du und ich. Wir haben es uns nicht ausgesucht. Ich mir nicht das Gift in meinem Körper, du dir nicht die kranke Frau. Die tiefste Schicht ist kein gemütlicher Ort. Keiner, an dem wir uns gerne aufhalten. Wer so weit hinabsteigt, ist stärker, als er glaubt. Nicht jeder erträgt die
Begegnung mit seinem eigentlichen Wesen. Du hast die Kraft. Ich habe dich seit meiner Krankheit nie klagen hören. Nicht einmal. Du wäschst mich nachts. Du wäschst mich am Tage. Du erträgst meinen Gestank. Du hast es auf dich genommen, dein Schicksal. Verzweifle nicht.
Weitereilen. Ruhelos. Hier konnten sie nicht blieben. Es war kein Platz für sie. Da Long klappte das Buch zu und vergrub seinen Kopf in den Händen. Sein Schicksal auf sich nehmen und sich selbst treu bleiben. Wie sollte ihm das gelingen? Es gab eine Möglichkeit, aber vor der schreckte er zurück. Er könnte sie beide töten. Einige Wochen nach Min Fangs Erkrankung hatte er in seiner Verzweiflung schon einmal eine
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