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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Bruder.
    Â»Ein solch klarer Weg führt stets zum Guten«, lautete der letzte Satz, den sein Vater ihm hinterlassen hatte.
    Xiao Hu las das Hexagramm über den RÜCKZUG wieder und wieder, und je öfter und intensiver er sich damit beschäftigte, desto mehr verstand er die Handlungsanleitung, die sein Vater darin gefunden hatte, und die nun auch für ihn galt. Er musste sich zurückziehen. Von allem, was er auf Parteischulungen gelernt hatte. Von Kollegen und Freunden. Von seinem Wunsch, nach Beijing versetzt zu werden. »Die innere Loslösung ist eine feststehende Tatsache. Dadurch hat man die Freiheit zu gehen.«
    Er begriff, dass ein Rückzug nicht gleichbedeutend mit dem Ende war. Ein Rückzug hatte viele Gesichter, er konnte auch lediglich ein Umweg sein auf dem Marsch nach vorn. Rückzüge waren, richtig angewandt, keine Kapitulationen, sondern Waffen. »Wo man seinen Weg so klar und zweifellos vor sich sieht, stellt sich eine heitere Fassung ein …«
    Die Lage war unzweideutig.

    Xiao Hu überlegte, mit wem er sich am Abend treffen könnte. Er öffnete das Adressbuch des iPhone und strich mit dem Finger suchend über die mehr als fünfhundert Eintragungen in seinem Telefonverzeichnis. Er hatte zahllose Bekannte, Kollegen, Parteifreunde, die er jetzt kontaktieren konnte, um über Autos zu reden, über Frauen, Immobilien, Aktien. Ein Freund, mit dem er sich über seine Pläne beraten konnte, der ihn ermutigen würde, war nicht darunter. Zhou vielleicht. Mit ihm hatte er, nach dem Erwerb zweier Wohnungen von seiner Frau im vergangenen Jahr, viel Zeit verbracht. Seit dem Tod der Eltern vor zwei Wochen hatten sie nur einmal kurz gesprochen; jedes Mal wenn Xiao Hu anrief, war Zhou in der Klinik, auf dem Golfplatz oder beim Essen und versprach zurückzurufen. Er drückte die Nummer.
    Â»Hey, Xiao Hu. Entschuldige, dass ich mich noch nicht gemeldet habe. Zu viel zu tun.«
    Die Verlegenheit in der Stimme des Freundes war ihm unangenehm. »Ich weiß. Kein Problem. Störe ich?«
    Â»Nein. Was gibt’s?«
    Â»Nichts Besonderes. Wollte fragen, ob ihr heute Abend schon was vorhabt?«
    Zhou zögerte mit der Antwort: »Hm, heute Abend ist schlecht.«
    Â»Morgen?«
    Â»Auch schlecht. Vielleicht nächste Woche.«
    Â»Geht auch. Wann?«
    Â»Ich, ich kenne meinen Dienstplan noch nicht. Am besten, ich rufe dich Anfang der Woche an.«
    Xiao Hu hasste schlechte Ausreden. »Zhou, ist alles in Ordnung?«
    Â»Klar. Was soll sein? Warum fragst du?«
    Â»Nur so.«

    Als litte er unter einer ansteckenden Krankheit. Er fragte sich, ob er womöglich auf irgendeiner Liste von Personen stand, mit denen man Kontakt vermeiden sollte. Wusste Zhou etwas? Der Arzt war ebenfalls KP-Mitglied, wenn auch ein passives, aber vielleicht hatte er durch Zufall von einem Patienten oder einem Verwandten Interna aus der Partei über ihn erfahren, die ihm selbst noch nicht bekannt waren. Oder spürte er einfach, dass sich das Schicksal seines Freundes zum Unguten wendete, und ging deshalb auf Distanz? Glaubte er womöglich, dass dieser Doppelselbstmord nicht das Ende von Xiao Hus Problemen war, sondern erst der Anfang?
    Xiao Hu beendete enttäuscht das Gespräch, ging in die Küche, machte sich einen doppelten Espresso und holte den Brief von Paul Leibovitz hervor, den er hinter den Kaffeedosen versteckt hatte. Er zog die Kopie von Yin-Yins Text aus dem Umschlag, las ihn noch einmal gründlich und machte sich am Rand Notizen. Seine Schwester schrieb wunderbar, noch eine Gabe, um die er sie beneidete. Seine Version würde nicht annähernd so elegant, präzise und gleichzeitig so leidenschaftlich klingen.
    Er klappte den Laptop auf, öffnete die Seite mit dem Text und gab die Korrekturen ein. Er beschrieb die Geschichte von Yin-Yins geheimnisvollem Verschwinden, die Umstände, die zum Selbstmord seiner Eltern geführt hatten, und fügte einen neuen Schluss hinzu: Wie viel war in China ein Menschenleben wert? Wie konnten sich Menschen gegen Unrecht wehren, das ihnen von staatlicher Seite angetan wurde? Kann es eine »harmonische Gesellschaft« geben, solange nicht Recht und Gesetz herrschen, denen sich auch die Partei unterordnen muss? Er forderte alle Leser auf, bei den Behörden in Hangzhou und der Sanlitun-Zentrale per E-Mail zu protestieren. Die Freilassung Yin-Yins zu verlangen. Eine Untersuchung
des Todes vom

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