Drachenspiele - Roman
Gefängnis. Auf der Kaimauer unter ihr kann sie schwarze Autos mit getönten Scheiben erkennen und Männer in Anzügen, die sich lebhaft unterhalten. Hin und wieder werfen sie einen Blick zur Kugel, die über ihnen schwebt. Dann lachen sie. Es gibt einen zweiten Ruck, gefolgt von einem lauten Rasseln, das Geräusch einer schweren Ankerkette, die sich ins Meer ergieÃt. Langsam verliert die Kugel an Höhe.
Sie wollen mich im Hafen versenken, ist Yin-Yins erster Gedanke. Sie schreit aus Leibeskräften. Unsanft schlägt die metallene Kugel auf dem Meer auf. Ein sattes, tiefes Gurgeln ringsum, Yin-Yin trommelt mit den Fäusten gegen die Wände aus Stahl. Ein letzter kurzer Blick, dann ist sie unter der Wasseroberfläche verschwunden, sinkt tiefer. Auf dem
Weg zum Grund gehen die Sonnenstrahlen verloren, geht alles verloren, es wird dunkler und dunkler, sie schreit und schreit.
»Yin-Yin. Yin-Yin.« Die Stimme von Lu, ihrer Mitbewohnerin. »Wach auf, wach endlich auf, du träumst.«
Lus Hand auf ihrer Schulter holte sie vom Meeresgrund. Der vertraute Geruch ihres Zimmers. Es dauerte, bis sie blinzelnd die Augen öffnen konnte. Das grelle Licht blendete, sie drehte schützend den Kopf zur Seite.
»Geht es wieder?«
Yin-Yin nickte.
»Soll ich Musik anmachen?«
»Nein, auf keinen Fall. Nur das Radio.«
»Einen bestimmten Sender?«
»Egal.«
Der Klang einer menschlichen Stimme genügte. Während ihrer Gefangenschaft hatte sie oft tagelang mit niemandem ein Wort gewechselt, irgendwann hatte sie angefangen zu singen und laut mit sich selber zu sprechen. Stille war etwas, das sie seither nur schwer ertrug. Vier Wochen waren seit ihrer Freilassung vergangen, und noch immer hatte Yin-Yin keinen einzigen Ton klassische Musik gehört. Sie weigerte sich, zögerte den Moment hinaus, ohne zu wissen, warum.
»Ruf nach mir, wenn du mich brauchst«, sagte Lu und löschte das Licht.
Yin-Yin starrte an die Decke. Die Fünf-Uhr-Nachrichten rieselten vorbei, sie wartete auf die Stimmen des Morgens. Nachbarn, die sich auf den Weg zur Arbeit machten. Eltern, die ihre Kinder zur Eile mahnten. Die alte Frau Rong nebenan, die im Morgengrauen immer ihren tiefen, krächzenden Husten hustete. Das erste Licht fiel ins Zimmer und malte schwarze Muster auf die Wände. Sie war todmüde,
wehrte sich jedoch mit allen Kräften dagegen, wieder einzuschlafen. Die Nächte waren anstrengender als die Tage, in den Nächten holten sie Erinnerungen und diese heimtückischen und brutalen Träume ein. Sie überlegte sich aufzustehen, nur um nicht wieder in Schlaf zu versinken, war aber zu erschöpft. Sie versuchte, an etwas Schönes zu denken, ein Konzert, ein neues Kleid, die Partitur der »Kreutzersonate«, doch die Noten verschwammen vor ihren Augen, die Müdigkeit war stärker.
Als sie erwachte, war es bereits kurz nach neun Uhr. Sie hörte Lu in der Küche hantieren, es roch nach frischem Kaffee; sie musste sich beeilen, ihr stand ein langer Tag bevor. Sie hatte sich entschieden, China zu verlassen - für einige Wochen oder Monate, so genau wusste sie es noch nicht. Eine ehemalige Kommilitonin, die an der Juilliard School of Music in New York City studierte, hatte sie eingeladen, und Yin-Yin spielte mit dem Gedanken, sich ebenfalls dort zu bewerben. Sie hatte einen Flug über Hongkong gebucht, um Paul Leibovitz und ihre Tante zu besuchen. Die Maschine ging um 14 Uhr, und sie war bisher weder dazu gekommen, ihre Sachen zu packen noch ihr Zimmer aufzuräumen, in dem während ihrer Abwesenheit eine Freundin Lus wohnen wollte.
Ihr Bruder brachte sie zum Flughafen. Sie saÃen lange Zeit schweigend im Wagen. Ihr war nicht nach Reden, und er hatte es aufgegeben, Fragen zu stellen. Das war in den ersten Tagen nach ihrer Freilassung anders gewesen. Wo warst du? Wer hat dich verhört? Was wollten sie wissen? Hat man dich geschlagen? Bedroht? Er konnte keine Ruhe geben. Kannst du dich an Namen erinnern? An Gesichter?
Nein, konnte sie nicht. Nein, gequält hatte man sie nicht. Nicht körperlich zumindest. Nein. Nein. Nein. Er brauche
sich keine Sorgen um sie zu machen, ihr ginge es gut. Den Umständen entsprechend. Xiao Hu fiel es schwer, ihre Schweigsamkeit zu ertragen, sosehr er sich auch bemühte. Sag doch was, Yin-Yin, bat er, als sein Drängen zu nichts führte. Erzähl einfach, was passiert ist. Er wollte ihre
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