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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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Ehepaar Wu. Auch wenn er sich keinen großen Illusionen hingab, dass viele Leser dem Folge leisten würden. Zu hoch das Risiko. Zu groß die Angst.
    Oder irrte er? Die Macht des Internet, er wusste sie nicht einzuschätzen. Es veränderte China, aber wie schnell und in welche Richtung? Machte es die Vorsichtigen mutiger oder nur die ohnehin Mutigen? Die Geschichte, die der Anwalt Chen seiner Schwester über den Einfluss des Internet auf polizeiliche Ermittlungen in der Provinz Henan erzählt hatte, war zwar die Ausnahme, aber kein Einzelfall. Xiao Hu hatte gerade wieder von einem Beispiel gehört, bei dem eine Sicherheitskamera in einem Parkhaus einen Parteisekretär gefilmt hatte, der ein minderjähriges Mädchen belästigte. Als die Eltern Anzeige erstatten wollten, weigerte sich die Polizei zu ermitteln. Auf mysteriöse Weise fanden die Aufnahmen Tage später den Weg ins Internet. Dort waren Zorn und Erbitterung unter Bloggern und in Chatrooms so groß, dass die Behörden den Mann verhaften mussten. Die Geschichte von Sanlitun und seinem Dorf besaß wesentlich mehr Brisanz als die eines pädophilen Parteikaders. Sie musste nur lange genug im Netz stehen.
    Natürlich würde der Verdacht sofort auf ihn fallen. Sie würden recherchieren, wer all die Details wissen könnte, und in kürzester Zeit auf ihn kommen. Er war sich bewusst, was ihm bevorstand: Verhöre, stunden-, vielleicht tagelang. Drohungen, falsche Versprechungen. Würde seine Kraft reichen? Paul Leibovitz hatte ihm vorgeschlagen, den Verdacht auf ihn, Paul, zu lenken. Er war in Hongkong in Sicherheit und könnte dort Journalisten eingeweiht haben. Der Text konnte also ebenso gut von jemandem in der ehemaligen britischen Kronkolonie geschrieben worden sein. Xiao Hu war überzeugt, dass es der Staatssicherheit nicht gelingen würde, ihm
irgendetwas zu beweisen, dass er nach dem Tod seiner Eltern eine Standfestigkeit besaß, die ihm bei seinem letzten Gespräch in der Parteizentrale gefehlt hatte, dass seine tadellose Kaderakte am Ende für ihn sprach.
    Er lud die Datei auf einen USB-Stick, den er später in den Müll werfen würde, und machte sich auf den Weg in die Gegend um den Jing’an-Tempel. Dort gab es eine Reihe von Internet-Cafés, anschließend wollte er, um mögliche Spuren zu verwischen, in den Stadtteil Xujiahui und später nach Pudong.
    Das erste Café lag in einer Passage, der Raum war klein und verraucht, vor den meisten Bildschirmen saßen Jugendliche, die am Computer spielten. Niemand beachtete ihn. Er verband seinen USB-Stick mit einem Rechner. Die nächsten Minuten hatte Xiao Hu unzählige Male in seinem Kopf durchgespielt. Sich bei Hotmail einloggen. Abwarten, ohne Verdacht zu erregen. E-Mail-Programm starten, Adressaten eingeben. Die mitgebrachte Datei öffnen, kopieren, anhängen, sicherheitshalber noch in den Brief hineinkopieren. Auf »Senden« drücken. Alles musste so schnell gehen, dass niemand durch Zufall einen Blick auf den Text werfen konnte. Xiao Hu wunderte sich selbst über seine Ruhe. Nur vor dem Betätigen der »Senden«-Taste zögerte sein Zeigefinger einige Sekunden. Nicht, weil er zweifelte.
    Er verschickte mehr als nur ein Dokument. Er nahm Abschied. Und darin lag, wie immer, auch ein Anfang: die Beharrlichkeit eines einsamen Menschen.
    Die Freiheit zu gehen. Was für ein kostbares Gut.

XX
    Yin-Yin hört, wie eine schwere Stahlklappe ins Schloss fällt und sie jemand mit ein paar Handgriffen verriegelt. Dann herrscht nur noch beklemmende Stille. Sie schaut sich um, ihr Gefängnis ist klein und rund, eine Art Kugel oder Taucherglocke aus Metall, in der sie nicht einmal aufrecht stehen kann und bei ausgebreiteten Armen links und rechts die Wände berührt. Durch zwei Bullaugen fällt grelles Sonnenlicht. Sie drückt ihre Nase an eines der kalten Fenster und sieht nichts als tiefblauen Himmel.
    Sie kauert sich auf den Boden, zieht die Knie eng an die Brust, bettet den Kopf auf ihre Hände. Ein heftiger Ruck schreckt sie auf, Yin-Yin hat das Gefühl, wie in einem Fahrstuhl in die Höhe zu steigen. Die Kugel beginnt hin- und herzuschwingen wie ein Pendel. Yin-Yin springt hoch, stößt sich den Kopf, schreit kurz auf, flucht und starrt durch eines der Bullaugen. Sie sieht einen Pier, einen großen Kran auf Schienen mit einem langen, verrosteten Arm, und an diesem Arm hängt sie in ihrem

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