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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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hatte nicht damit gerechnet, dass er so alt aussehen würde. Erschöpft. Müde. Lebensmüde, dachte sie. Er könnte ebenso gut der Bruder ihrer Mutter sein. Etwas mehr als zehn Jahre lagen zwischen ihnen. Chinajahre. Er hatte Chinajahre gelebt, sie Hongkongjahre. Das war nicht das Gleiche. Auf der großen Karte der Erde waren sie Nachbarn gewesen, einen Stecknadelkopf voneinander entfernt, Hongkong - Sichuan, Hongkong - Shanghai, keine drei Flugstunden,
einen Tag und eine Nacht mit dem Zug, und hatten ihre Leben dennoch in anderen Zeitrechnungen verbracht. Chinajahre hinterlassen tiefe Spuren. Chinajahre sind gefräßig. Zermürben und verzehren.
    Sie suchte in seinen Zügen nach dem Bild des Bruders, das jahrelang unter dem Kopfkissen ihrer Mutter gelegen hatte. Das Leben war nicht gnädig gewesen, es hatte jede Spur von diesem Jungen aus dem Gesicht des Mannes, der ihr gegen-überstand, verwischt. Aus den zwar ernsten, aber neugierigen und lebendigen Kinderaugen waren misstrauische, dunkle Erwachsenenaugen geworden, in denen ein Kummer schimmerte, den sie bereits im Blick seiner Tochter gesehen hatte. Als wäre Trauer in dieser Familie vererbbar. In die helle Haut hatten sich auf Stirn und Wangen tiefe Furchen gegraben, in den buschigen Augenbrauen glänzten graue Strähnen. Sein winziger Leberfleck am Kinn war zu einem daumennagelgroßen Muttermal geworden, aus dem lange, schwarze Haare sprossen. Es war ein gezeichnetes, ein trauriges Gesicht, aber keines, das etwas in ihr rührte.
    Und klein war er, viel kleiner, als sie ihn sich vorgestellt hatte.
    Sie suchte nach Ähnlichkeiten. Es gab ein vergilbtes Familienfoto, ein einziges, das sie mit ihren Eltern zeigte. Sie standen alle vier nebeneinander, Vater und Mutter in dunkelblauen Mao-Anzügen, so düster in die Kamera blickend, als ahnten sie ein Unglück, das der Familie bevorstand. Ihr Vater war groß gewachsen, schlank, aber von kräftiger Statur, die typische Figur der Nordchinesen. Da Long besaß nichts davon. Er hatte volle Lippen und den gedrungenen Körperbau der Menschen aus der Provinz Sichuan, beides hatte er von der Mutter. Sonst fielen ihr keine äußerlichen Gemeinsamkeiten zwischen ihm und ihren Eltern auf.

    Sie standen sich stumm gegenüber. Auf Augenhöhe. Reglos. Sie hatte nicht das Bedürfnis, ihn zu umarmen. Er lächelte unbeholfen. Ihm fehlten zwei Zähne.
    Â»M-m-mei-mei.« Seine Stimme war angenehm. Ungewöhnlich leise und intensiv, eine Stimme, der man gern zuhörte. Mei-mei. Kleine Schwester. »X-x-xiao Hong.« Ihr chinesischer Name: Kleine Rote. Sie fragte sich, wie man seine Tochter allen Ernstes so nennen konnte, aber im Jahr ihrer Geburt war das in der Volksrepublik angeblich ein populärer Name gewesen. Er sprach ihn anders aus als ihre Mutter, die ihn immer etwas fauchte, als hätte sie ihn nie gemocht. Da Longs Betonung war sanfter, fast ein wenig zärtlich.
    Er redete weiter, sie bemerkte einen Sprachfehler; ihr Bruder wiederholte die ersten Laute eines Satzes, als stottere er. Dann wanderte ihr Blick von ihm zu Yin-Yin, zu Paul und wieder zurück. Das meinte er nicht ernst. Das durfte nicht wahr sein. Mandarin. Was sonst? Ein heftiges Zucken durchfuhr sie. Sie hatte das Wesentliche aus den Augen verloren. Wie wollten sie sich verständigen? Ihr Bruder sprach Mandarin, Christine verstand nur Bruchstücke. Sie war mit fünf Jahren aus diesem Land geflohen, das Kinder in den Tod schickte und Väter in Vögel ohne Flügel verwandelte, und hatte alles zurückgelassen: die Asche ihres Vaters, die Erinnerungen, ihre Sprache. Sie hatte sich Hongkong zugewandt, einen zusätzlichen, westlichen Namen bekommen, den sie lieber mochte als ihren chinesischen, und angefangen, Kantonesisch zu sprechen wie ihre Mutter auch. Bruder und Schwester sprachen nicht mehr dieselbe Sprache, sie hatten keine Worte füreinander, die sie verstanden. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. Fragte, ob er Kantonesisch spräche. Er schüttelte ebenfalls den Kopf, peinlich berührt, als wäre es seine Schuld. Englisch? Nein.

    Paul rettete sie. Er stellte sich höflich vor und sagte, zunächst in bestem Mandarin, dann auf Kantonesisch, es sei doch schön, wenn Bruder und Schwester auch in fortgeschrittenem Alter noch voneinander lernen könnten, ganz besonders eine Sprache, und er böte in der Zwischenzeit seine Dienste als Übersetzer

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