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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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diesem scharfen Ton mit ihrer Nichte? »Ich würde gern wissen, welche Art von Hilfe er braucht.«, fügte sie beschwichtigend hinzu.
    Â»Darüber hat er mit mir nicht gesprochen.«
    Sie sagte die Unwahrheit und gab sich nicht einmal Mühe, das zu verbergen. Bevor Christine antworten konnte, beugte sich Paul zu ihr hinüber und flüsterte auf Kantonesisch: »Christine, du musst dich nicht mehr lange gedulden. Wir werden es gleich erfahren.«
    Kurz darauf bogen sie von der Autobahn ab, kamen in ein lang gestrecktes Tal, fuhren einige Kilometer auf einer Landstraße, bogen erneut ab, diesmal in eine schmale, von Feldern gesäumte Allee. Der Weg war so holprig, dass sie nur noch im Schritttempo vorankamen. Vor ihnen tauchte die Autobahn wieder auf, die hier auf hohen Pfeilern das Tal durchquerte. Dahinter lag ein Dorf. Der Weg endete auf einem sandigen Platz am Rande des Ortes. Der Fahrer stellte den Motor ab.
    Â»Die letzten dreihundert Meter müssen wir zu Fuß gehen«, erklärte Yin-Yin. »Die Straßen im Dorf sind zu schmal für Autos.«
    Paul stieg aus und blickte sich um, Christine wäre am liebsten
sitzen geblieben. Er ging um den Wagen und machte ihr die Tür auf. Sie sah in seinen Augen, dass er ebenso sprachlos und irritiert war wie sie. Wo hatte man sie hingebracht? Der Bekannte Yin-Yins lud ihr Gepäck aus und verabschiedete sich; er wollte weiter zu seinen Eltern, ein Taxi würde sie am Abend ins Hotel bringen, er käme morgen Nachmittag zurück, um sie zum Flughafen zu fahren. Während Paul die kleinen Koffer nahm, betrachtete Christine die Staubwolke, die das Auto hinter sich her zog. Sie fühlte sich zurückgelassen. Ausgesetzt. Trotz Paul. Selbst wenn sie wollte, könnte sie diesen Ort ohne Hilfe nicht mehr verlassen.
    Ein bellender Hund kam auf sie zugeschossen, blieb zwei Meter vor ihnen stehen und kläffte so wütend, dass er sich zu verschlucken drohte. Er tut nichts, erklärte Yin-Yin; Christine ließ ihn trotzdem nicht aus den Augen. Eine Windbö fegte über den Platz, wirbelte eine braune Sandwolke auf, zwei Plastiktüten tanzten wie übergroße Schmetterlinge durch die Luft, bis sie im Schatten einer Mauer sanft zu Boden glitten. Die Sonne stand fast senkrecht am Himmel, es war drückend heiß und das gleißende Licht so hell, dass es in den Augen brannte. Christine setzte ihre Sonnenbrille auf.
    Ihr Bruder war nicht gekommen, um sie zu begrüßen. Er hatte ihr nach fast vierzig Jahren ein Lebenszeichen geschickt, hatte sie aufgefordert, so schnell wie möglich zu ihm zu reisen, und war nicht gekommen, um sie zu begrüßen.
    Sie überquerten den Platz und bogen in eine lange, baumlose Gasse. Vor einem Haus saßen zwei alte Männer auf Holzhockern, ihre weißen, verschwitzten Unterhemden klebten an ihren Körpern, sie wedelten mit ausgeblichenen Fächern und starrten die drei an. Es waren befremdliche Blicke. Nicht freundlich. Nicht feindlich. Seltsam ermattet, leer, fast seelenlos. Eine Frau, ein Bündel Reisig auf dem Rücken, kam ihnen
mit schleppenden Schritten entgegen; sie ging so gebückt, dass sie nicht einmal aufblickte, als sie sich begegneten. Es herrschte eine merkwürdige Stille im Ort, die meisten Häuser wirkten unbewohnt. Sie hörten weder Stimmen noch andere Geräusche, nur den Wind und den Lärm der Autobahn. Eine leblose, eine farblose Welt, in der nur verschiedene Schattierungen von Graubraun zu existieren schienen. In einer Toreinfahrt sahen sie zwei Frauen sitzen, die mit geübten Bewegungen gefüllte Teigtaschen zubereiteten, ihre Haare, ihre Gesichter, waren so grau wie die Erde.
    Christines Unruhe wuchs. Was um alles in der Welt erwartete sie in diesem verlassenen Dorf? Sollte ihr Bruder in einer dieser alten jämmerlichen Hütten leben?
    Vor einer weiß gekachelten Mauer blieb Yin-Yin stehen und öffnete die schwere Holztür eines runden Tores. Sie folgten ihr in einen Hof, in dessen Mitte ein Brunnen lag. An einer Wand waren Holzscheite gestapelt, in einer Ecke standen zwei Bäume, deren Blätter mit braunem Staub übersät waren. Den Hof begrenzte ein zweistöckiges Haus, dessen Fassade ebenfalls mit weißen Kacheln gepflastert war, das Dach bedeckten rot glasierte Ziegel. Es war das schönste Gebäude im Ort.
    Sie hörten das Tor ins Schloss fallen.
    Â»Papa«, rief Yin-Yin, »wir sind da.«
    Christine

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