Drachenspiele - Roman
viel üben.«
»Musikerin? Die gab es bisher in unserer Familie nicht«, mischte sich Christine ein. Es war eine Feststellung, keine Frage, dennoch hatte sie eine Antwort erwartet. »Woher hast du das Talent? Ist mein Bruder etwa musikalisch?« Was für eine sonderbare Frage, dachte sie. Es war ihr unangenehm, sich bei ihrer Nichte über die Fähigkeiten ihres Bruders erkundigen zu müssen. Als wäre es Christines Versagen, dass sie das nicht wusste.
»Ein wenig«, antwortete Yin-Yin mit einem knappen Lächeln. »Er spielt sehr schön Mundharmonika. Das Talent habe ich wohl von meiner Mutter. Sie ist Musiklehrerin und wäre gern Sängerin geworden. Sie hatte eine wunderschöne Stimme.«
»Wieso hatte? Ist sie tot?«, entgegnete Christine so erschrocken, als handle es sich um eine gute Freundin.
»Nein.« Yin-Yin atmete zweimal tief durch, bevor sie hinzufügte: »Aber sie singt nicht mehr.«
Stille.
»Du hast noch Geschwister, stimmtâs?«, erkundigte sich Paul. Er wollte das Gespräch nicht sterben lassen.
»Ja, einen älteren Bruder.«
»Was macht der?«
»Er lebt auch in Shanghai und ist Manager bei China Life, dem Versicherungskonzern.«
»Lernen wir ihn auch kennen?«
»Das glaube ich nicht.«
Christine stutzte. Ein harscher Ton lag in der eben noch freundlichen Stimme.
Das Schweigen kehrte in den Wagen zurück. Ein hässliches, lautes Schweigen, weil es ein Kind der Sprachlosigkeit war, nicht eines der wortlosen Ãbereinstimmung, wie sie es von Paul und sich kannte.
Christine lehnte sich zurück, blickte aus dem Fenster und hatte das Gefühl, dass sie zwar schnell fuhren, aber trotzdem kaum von der Stelle kamen. Die Stadt sah überall gleich aus: Hochhäuser standen neben Hochhäusern wie Bäume in einem Wald, unterbrochen nur von Kränen und Baustellen, auf denen neue Wolkenkratzer entstanden. Nach einer Weile nahm die Zahl der Hochhäuser ab, die der Baustellen zu.
Als die ersten Reisfelder auftauchten, waren sie schon fast zwei Stunden unterwegs. Der Expressway schlängelte sich nun durch graugrünes, hügeliges Terrain, zerschnitten von Bahndämmen, neu gebauten Autobahnen und Brücken. Eine merkwürdige Gegend, keine Stadt mehr, aber auch keine Natur. Sie entdeckte Wohnsiedlungen, die offensichtlich fertig
gebaut waren, in denen aber niemand zu wohnen schien. Sie sah halb fertige Häuser, Bauruinen, die bereits wieder verfielen. Breite StraÃen, die plötzlich irgendwo endeten, Brückenpfeiler ohne Brücken. Viele Orte, die sie passierten, bestanden, soweit sie es erkennen konnte, hauptsächlich aus Fabriken und den dazugehörigen Wohnsiedlungen der Arbeiter. War dies das Gesicht des neuen China, über das sie in Hongkong so viel las und hörte?
Nicht schön.
Nicht hässlich.
Eine dicht bevölkerte und zugleich gesichtslose, abweisende Landschaft.
»In gut einer Stunde sind wir da. Meine Eltern leben in einem Dorf in der Nähe von Yiwu. Kennt ihr das?«, fragte Yin-Yin.
»Nein«, antwortete Paul.
»Wir haben dort für euch ein Hotelzimmer reserviert. Es ist ein interessanter Ort.«
»Inwiefern?«
»Als wir vor zwanzig Jahren hinzogen, war es eine Kleinstadt mit 30 000 Einwohnern, heute leben da fast 700 000 Menschen. Ich bin dort zur Schule gegangen, aber jetzt verlaufe ich mich immer. Ein Freund von mir war drei Jahre in Amerika, und als er kürzlich zurückkam, fand er sein Haus nicht mehr. Er wusste, dass es noch steht, aber er konnte es nicht finden. Er stieg aus dem Taxi und irrte zwei Stunden durch sein altes Stadtviertel. Nichts in der Umgebung erkannte er wieder. Kein Gebäude, keine StraÃe. Nach drei Jahren! Es ist seltsam, wenn einem etwas sehr vertraut sein müsste und doch ganz fremd ist, wenn ihr versteht, was ich meine.«
Paul nickte.
Christine rutschte im Fond unruhig hin und her. Sie wollte nicht über wachsende Städte und Fremde, die ihr Zuhause nicht mehr finden, reden. Sie wollte wissen, was sie erwartete. »Yin-Yin, kannst du mir verraten, warum dein Vater mir den Brief geschrieben hat?«
Paul drehte sich erstaunt zu ihr.
Yin-Yin schaute in den Rückspiegel, dort trafen sich, für die Länge eines Atemzugs, ihre Blicke.
»Du bist seine Schwester.«
»Das bin ich seit zweiundvierzig Jahren.« Sie bedauerte den Satz sofort. Mit welchem Recht sprach sie in
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