Drachenspiele - Roman
die Hauswand. Chouchou musste blind geworden sein und den Verstand verloren haben. Er taumelte zurück, fiel um, stand auf, drehte sich mehrmals um die eigene Achse und rannte nun geradewegs mit Anlauf gegen die Mauer auf der anderen Seite des Hofs. Chouchou, schrie ich entsetzt, hör auf damit. Beruhige dich. Aber der Anfall wollte kein Ende nehmen, er schoss weiter über den Hof, prallte gegen den Brunnen, die Treppe, den Holzstapel, bis er benommen liegen blieb. Gegen Abend wiederholte sich das fürchterliche Schauspiel. Am nächsten Morgen fanden wir ihn tot im Brunnen. Er musste während eines nächtlichen Anfalls hineingesprungen sein. Als hatte er seinem Leid ein Ende setzen wollen.
Zwei Tage später begann das Zittern. Ich umfasste den hölzernen Löffel mit der ganzen Hand, damit ich ihn nicht fallen lieÃ. Ich führte ihn zum Mund, und als er meine Lippen erreichte, war kein Tropfen Suppe mehr darauf.
Du bist in der Stadt und auf dem Feld gewesen, und ich hatte es bis zu diesem Moment vor dir verbergen können.
Als wir beim Arzt saÃen, war alles wie immer. Meine Finger gehorchten mir wieder. Die Wege waren eben, die Welt schwankte nicht mehr. Die Trägheit, eine ferne Erinnerung. Guten Tag, Herr Doktor. Wie geht es Ihnen? Mein Mann hat mich zu Ihnen gebracht.
Wie schön meine Stimme plötzlich wieder klang. Ich genoss jeden Laut, jedes Wort, jeden Satz.
Der Arzt konnte nichts feststellen. Kein Fieber. Puls und Blutdruck normal. Die Zunge nicht belegt. Der Frühling, was sonst? Als wir zurück im Dorf waren, begannen die Krämpfe. Ich zuckte und zitterte wie Chouchou vor einigen Tagen, und hätte ich
die Kraft gehabt, ich wäre mit Wucht gegen die Hauswand gerannt.
Das Unglück hatte seine Boten vorausgeschickt.
Jetzt war es selber angekommen.
VI
Sie war naiv gewesen. Gedankenlos. Unbedacht oder einfach zu beschäftigt. Seitdem sie beschlossen hatten, nach Shanghai zu fahren, hatte sich Christine um die Reise gekümmert. Die günstigsten Flüge und das Hotel in Shanghai herausgesucht, sich eine Geschichte für Josh und ihre Mutter ausgedacht, im Büro eine Vertretung eingearbeitet. Sie hatte erledigt, was zu erledigen war, sie hatte organisiert, getan und gemacht und dabei das Wesentliche aus den Augen verloren.
Wie so oft in ihrem Leben.
Der Grund ihrer Reise, und was die Begegnung mit ihrem Bruder für sie bedeuten könnte, hatten vor lauter Geschäftigkeit in ihren Gedanken keinen Platz gehabt. Sie war völlig unvorbereitet gekommen. Pauls Frage im Flugzeug war sie ausgewichen. Und nun stand diese junge Frau vor ihr und behauptete, ihre Nichte zu sein.
Die Stimme war leise, aber nicht zaghaft. Yin-Yin führte sie zu einem VW Passat, der vor dem Hotel auf sie wartete, und stellte ihnen einen Bekannten vor, der in der Nähe von Yiwu seine Eltern besuchen wollte, und so nett war, sie zu chauffieren.
Sie saÃen schweigend im Auto. Der junge Mann am Steuer konzentrierte sich auf den Verkehr, Yin-Yin starrte vom Beifahrersitz geradeaus, Paul inspizierte zum wiederholten Mal das Interieur des Wagens und lieà dabei den Tachometer nicht aus den Augen.
Christine hätte ihre Nichte gern gefragt, woher die Trauer in ihrem Blick rührte. Sie hätte gern gewusst, wie es ihrem Bruder geht und ihrer Schwägerin, was Da Long seiner Tochter über seine Familie erzählt und warum er fast vierzig Jahre gebraucht hatte, um sich zu melden. Sie hätte gern
gewusst, was für ein Mensch ihr Bruder war. Ein guter Vater oder ein schlechter? Aufbrausend und cholerisch oder ruhig und gelassen? So viele Fragen. Wie sollte sie sich diesem unbekannten Leben nähern? Christine wusste es nicht, und anstatt wahllos irgendwo anzufangen, einfach eine Frage zu stellen, die dann zur nächsten führen würde und zur übernächsten, verschlug es ihr die Sprache.
Paul eilte ihr zu Hilfe, vielleicht, weil er das Schweigen im Auto nicht länger ertrug.
»Lebst du in Shanghai?«, fragte er auf Englisch.
»Ja«, antwortete Yin-Yin kurz, aber nicht unhöflich.
»Was machst du?«
»Ich studiere Musik.«
»Willst du Lehrerin werden?«
»Nein. Ich studiere am Konservatorium Violine. Ich möchte gern in einem Orchester spielen. Leider habe ich im vergangenen Jahr die Aufnahmeprüfung für die Shanghaier Symphoniker nicht bestanden. In vier Wochen habe ich eine zweite Chance. Bis dahin muss ich noch
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