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Drachenspiele - Roman

Titel: Drachenspiele - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Blessing <Deutschland>
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war.
    Â»Bist du in Shanghai gewesen?«, wollte Paul wissen. »Dort gibt es mit Sicherheit sehr gut ausgebildete Neurologen.«
    Â»B-b-estimmt, aber die können wir nicht bezahlen«, antwortete Da Long. »Außerdem ist es zu spät. Alles ging so schnell. Wie soll ich sie in diesem Zustand bis nach Shanghai bringen? Und selbst wenn wir das schaffen würden, mit den Berichten von hier, haben die Ärzte gesagt, nimmt sie keine Klinik. Ein hoffnungsloser Fall.«
    Sie vernahmen erneut das leise Grunzen, Da Long stand eilig auf, Paul und Christine folgten ihm.
    Sie war kein schöner Anblick. Min Fang lag ausgestreckt auf dem Rücken, den Blick starr nach oben an die Decke gerichtet, ihren Mund halb geöffnet, das Gesicht zu einer grotesken Grimasse verzogen. Ihre Finger waren verkrüppelt und steif, wie große Krähenfüße, dachte Christine. Es gelang ihr nicht, sich vorzustellen, was für eine Frau sie vor wenigen Wochen noch gewesen war. Hübsch oder hässlich, anmutig oder plump, dick oder dünn, die Krankheit hatte sie in ein hilfloses Bündel Mensch verwandelt. Da Long setzte sich aufs Bett, strich ihr übers Gesicht, betrachtete seine Frau. Christine hörte ein Zischeln. Er stellte die Musik aus, hielt sein Ohr ganz nah an ihren Mund. Ein entferntes Röcheln. Wie aus einer anderen Welt. Er verharrte an ihrem Mund, als könne er in sie hineinhorchen, als müsse er nur geduldig genug sein.
    Â»Sie will etwas sagen, und ich verstehe sie nicht.« Er wandte sich ihnen zu und wiederholte: »Ich verstehe sie einfach nicht. Nach fast vierzig Jahren. Wie kann das sein? Meine eigene Frau.«

    Die Verzweiflung in seiner Stimme war Christine unangenehm. Sie griff hinter ihrem Rücken nach Pauls Hand.
    Unter der Bettdecke kroch ein übler Geruch hervor. »Ich muss sie sauber machen«, sagte Da Long und wischte sich durch das Gesicht. »Yin-Yin, vielleicht kannst du ihnen inzwischen das Dorf zeigen. Es dauert nicht lange.«
    Paul und Yin-Yin gingen in die Richtung des Platzes, auf dem sie mit dem Auto angekommen waren. Christine folgte ihnen mit einigen Metern Abstand. Ihr war nicht nach Reden. Sie fühlte sich erschöpft, ihr Kopf war schwer, am liebsten hätte sie sich irgendwo hingelegt. Sie überlegte, wie sie ihrem Bruder helfen könnte, aber ihr fiel nichts ein. Sie war keine Ärztin. Sie kannte keinen Neurologen in Hongkong, den sie um Rat fragen könnte. Sie hatte nicht genug Geld, um die besten Ärzte einfliegen zu lassen. Sie könnte im Internet recherchieren, aber wonach? Plötzliche Lähmungen? Sprachstörungen? Heftiges Zittern der Gliedmaßen? Sie verstand nicht viel von Medizin, aber der Vater einer Freundin hatte im vergangenen Jahr einen schweren Schlaganfall erlitten, und die hatte von ähnlichen Symptomen und Folgen erzählt. Vielleicht gab es ja Medikamente, die das Leiden Min Fangs lindern könnten, wenn es dafür nicht schon zu spät war. Doch wenn sie ehrlich war, hatte sie nicht das Gefühl, dass dieser verkrüppelten, blinden und wohl taubstummen Frau noch irgendetwas helfen könnte.
    Ein liebendes Herz gibt nicht auf. Ein liebendes Herz akzeptiert nicht einmal den Tod. Das klang schön, doch sie bezweifelte, dass ihr Bruder Recht hatte.
    Christine hatte Paul und Yin-Yin aus den Augen verloren. Sie kam an eine Gabelung, bog zögernd nach links und stand plötzlich in einer engen, schattigen Sackgasse. Aus einem Haus hörte sie laute Fernsehstimmen, aus einem anderen das
Geklapper von Kochgeschirr. Vor einer Tür saß eine grauhaarige Frau, ganz in Schwarz gekleidet, in einem verrosteten Rollstuhl. Aus ihrem halb geöffneten Mund floss ein Speichelrinnsal das Kinn hinunter und tropfte in langen Fäden auf ihren Schoß. Die Finger der linken Hand, Krähenfüße, der rechte Arm zuckte unkontrolliert. Sie hatte die Schritte gehört und drehte ganz langsam den Kopf. Bevor sich ihre Blicke treffen konnten, machte Christine kehrt, eilte zurück und sah nach wenigen Schritten Paul und Yin-Yin auf der Suche nach ihr. Christine erzählte von der Kranken in der Sackgasse.
    Â»Das ist Frau Ma«, erklärte ihre Nichte. »Sie ist eine Freundin meiner Mutter und hatte ein paar Tage nach ihr einen Schlaganfall, aber ihr geht es besser. Soviel ich weiß, kann sie nicht mehr richtig sprechen, ist zum Teil gelähmt, aber im Vergleich zu Mama hat sie Glück

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