Drachensturm
» Eigentlich ist es kein Wunder, dass diese Menschen einen Sonnengott verehren, Nabu«, sagte sie.
» Nein, ein Wunder ist es nicht. Es ist schade, dass ich dir keine Farben zeigen kann. Der Himmel sieht wirklich prachtvoll aus. Darf ich dir etwas vorschlagen, Prinzessin?«
» Natürlich, Nabu.«
» Wir sollten uns hier einen Lagerplatz für die Nacht suchen, irgendwo auf einem dieser etwas niedrigeren Bergrücken.«
» Wir werden aber im Lager erwartet, Nabu.«
» Bist du eine Dienstmagd oder Ritter eines Ordens, Milena?«, fragte der Drache. » Dieser Fluss ist es wert, ihm weiter zu folgen, wenigstens, bis wir sicher wissen, dass er uns einen Weg ins Land jenseits der Berge bietet. Diese Entdeckung sollte es dir wert sein, einen Streit mit den Pizarros zu riskieren.«
» Mein Großonkel wird sich aber Sorgen machen«, entgegnete Mila, schon mehr als halb überzeugt.
» Daran ist er gewöhnt«, rief ihr Nabu trocken ins Gedächtnis. Er stieg in größere Höhen.
» Was machst du?«, fragte Mila.
» Ich halte Ausschau nach einem geeigneten Platz für die Nacht. Er sollte nicht zu nahe an einer Siedlung liegen, denn ich will keinen nächtlichen Besuch. Und ein wenig Wald wäre gut, denn du wirst ein Feuer brauchen. Ah, dort, das sieht gut aus.«
Mila spürte, wie sie schnell an Höhe verloren. Dann setzte der Drache auf, und plötzlich wich die Dunkelheit, und die verwaschenen, flackernden Flammen vor ihrem Inneren Auge zeigten Mila einige verkrüppelte Bäume, einen Platz, der groß genug war für sie beide, und rund um diesen steilen Hügel herum die hohen Berge, die den Fluss weit überragten. Weit und breit gab es kein Anzeichen für menschliche Besiedlung. Dennoch hatte Mila plötzlich das ungute Gefühl, dass sie beobachtet wurden.
Kemaq streunte durch das Lager. Es war inzwischen dunkel geworden, und Nebel stieg aus der Ebene auf. Er nahm an, dass Huaxamac mit seinem Bruder und den anderen Männern aus Tikalaq längst eingetroffen war, aber er verspürte wenig Sehnsucht nach ihnen und sah keine Veranlassung, nach ihnen zu suchen. Er stieß auf einige Lagerfeuer, an denen fast ausschließlich Marachuna saßen. Erfreut, Männer von seinem Volk anzutreffen, lief er näher heran, doch bevor er die Krieger erreichte, wurde er aus dem Schatten eines Zeltes heraus angesprochen: » Du bist störrisch wie ein Lama, Chaski.«
Kemaq blieb stehen und starrte in die Dunkelheit. Der Sprecher trat aus den Schatten. Es war der alte Melap.
» Komm mit, wir unterhalten uns etwas abseits der Lagerfeuer«, sagte der Tempeldiener und zog ihn am Arm hinter sich her.
Kemaq sah den Alten misstrauisch an. Es war zu dunkel, um seine Gesichtszüge zu erkennen. » Was willst du von mir, Melap?«, fragte er endlich.
» Hier wird es jetzt jeden Tag gefährlicher, denn die Fremden werden bald hier sein, Chaski. Ich bin immer noch der Meinung, dass du nicht hier sein solltest, und Pitumi ist es auch.«
» Pitumi – du hast sie getroffen?«
Der Chachapoya ging nicht auf diese Frage ein. » Diese Stadt, dieses Lager, das ist ein Ort für Krieger, nicht für Läufer, Chaski. Du wirst doch nicht vorhaben, in der unvermeidlichen Schlacht zu kämpfen, oder?«
Kemaq schüttelte den Kopf und hoffte, dass diese Schlacht eben nicht so unvermeidlich war, wie der Alte glaubte.
Dieser sagte jetzt: » Du weißt es vermutlich nicht, aber inzwischen gibt es schon erste Krieger, die das Heer verlassen. Du solltest ihrem Beispiel folgen.«
» Sie fliehen? Sie lassen den Sapay Inka im Stich?«, fragte Kemaq erstaunt. Plötzlich begriff er, was es mit den sechs Männern auf sich hatte, die er am Chaskiwasi getroffen hatte: Sie waren geflohen. Deshalb wollte der Hauptmann nicht, dass er jemandem von ihnen erzählte. Und sie hatten ihn zum Schweigen bringen wollen, damit er sie nicht verriet. Kemaq schauderte, weil ihm klar wurde, dass ihn bei der falschen Antwort der Hauptmann vielleicht hätte töten lassen.
Melap schwieg einen Augenblick, dann sagte er: » Pachakuti rückt jeden Tag näher. Die Zeit der Inka endet, Atahualpa sammelt seine Truppen vergeblich. Er wird untergehen.«
» Dann werden die Fremden die Herrschaft an sich reißen?«, fragte Kemaq verunsichert.
» Vielleicht, Chaski, vielleicht. Aber vielleicht gibt es auch einen dritten Weg, einen Weg für Chachapoya und Marachuna, der sie aus der Herrschaft des einen Herrschers herausführt, ohne sie in die eines anderen hineinzuführen. Und es kann gut sein, dass sie für
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