Drachensturm
erwiderte sie. Es war wirklich so. Sie waren zu Fuß durch die Stadt gelaufen, an deren Tor sie die alte Frau getroffen hatten. Die Stille war gespenstisch gewesen, und als die Spanier einmarschiert waren, mit dem schweren Tritt ihrer Stiefel, dem Hufgeklapper ihrer Pferde und dem Rumpeln der Kanonen, war die Verlassenheit nur noch deutlicher zu spüren gewesen. Mila war froh, dass sie diese Stadt nun hinter sich gelassen hatten. Allerdings war sie mit ihrem neuen Auftrag unzufrieden. Sie sollten das Land erkunden, sich aber von Caxamalca fernhalten. Pizarro hatte ihnen geradezu verboten, die Stadt auszukundschaften, und der Hochmeister hatte dem zugestimmt, ohne dass einer der beiden es für nötig hielt, die Gründe dafür zu erklären. Mila vermutete, dass Pizarro nicht wollte, dass andere ihre Meldung über das große Lager der Indios bestätigten, denn er hatte sich nach Kräften bemüht, die Zahl des Feindes kleinzureden. Und offenbar hatte ihr Großonkel beschlossen, ihn darin zu unterstützen.
» Tassilo gibt das Zeichen, Prinzessin«, rief Nabu jetzt und riss sie damit aus ihren Gedanken.
» Das wurde auch Zeit«, antwortete sie. Sie winkte zur Antwort in die Richtung, in der sie Nergal und den Tressler vermutete, dann schwenkte Nabu nach Osten.
» Es war klug von dir, uns die rechte Flanke einnehmen zu lassen, Prinzessin«, rief Nabu.
» Ich weiß«, erwiderte Mila lächelnd. Rechts ging es nach Osten – irgendwo dort musste die Stadt Tanyamarka liegen, irgendwo am Fuß der Berge, vor denen sie die Chachapoya-Frau gewarnt hatte. Pizarro hatte ihr zwar verboten, Caxamalca zu erkunden, von Tanyamarka hatte er jedoch nichts gesagt. Es war Nachmittag, und die Sonne hatte die dünne Luft erwärmt. Nabu flog so tief wie möglich, um Kraft zu sparen, und nach einer Weile ließ er sie an dem teilhaben, was er sah. » Wenn du erlaubst, werde ich diese kleinere Bergkette voraus südlich umfliegen, Prinzessin.«
» Natürlich«, antwortete sie. Aus dem grauen Flammenbild ragten einige nackte Bergrücken auf, aber nach Osten hin schien die Hochebene nicht so sehr anzusteigen. Sie kamen rasch voran, und Nabu schien es mit einem Mal eilig zu haben.
» Du fliegst sehr schnell, Nabu«, rief Mila, besorgt, dass seine Kräfte sich erschöpfen könnten.
» Es ist zwar Sommer, Prinzessin, aber die Tage hier sind trotzdem kurz, viel kürzer als in Spanien. Ich will sehen, dass wir möglichst weit kommen, bevor die Nacht anbricht und die Aufwinde verschwinden.«
» Was ist das dort vorn für ein Einschnitt, Nabu?«, fragte Mila. Das Bild war sehr unruhig. Jetzt flackerte es auf, die Flammen wurden schwächer, und die Dunkelheit kehrte zurück.
» Entschuldige, Milena. Vielleicht später wieder«, rief der Drache und fuhr fort: » Das ist ein Flusslauf, und ich denke, wir sollten ihm folgen, denn er fließt nach Osten und nicht nach Westen. Wer weiß, vielleicht führt er uns sogar auf die andere Seite der hohen Bergkette.«
Mila stimmte zu. Sie hatte diese Berge gesehen. Das ganze weite Hochtal lag zwischen zwei riesigen Bergketten mit schneebedeckten Gipfeln. Die westliche hatten sie überquert, vor der östlichen waren sie gewarnt worden. Aber gerade das zog Mila magisch an. Warum wollte die Indio-Frau nicht, dass sie sich ihren Bergen näherten?
Nach kurzer Zeit meldete Nabu, dass der Fluss, dem sie gefolgt waren, in einen anderen mündete, der nach Norden floss.
» Also geht es nicht über die Berge?«, fragt Mila enttäuscht.
» Jedenfalls nicht hier, Prinzessin, aber auch dieser Fluss muss die Berge doch irgendwann hinter sich lassen. Und mein Gefühl sagt mir, dass er nicht in den Stillen Ozean mündet.«
Der Fluss hatte sein Bett tief in die Felsen gegraben, und Nabu folgte seinem geschlängelten Verlauf. » Es geht viel besser hier unten. Hier haben meine alten Schwingen wieder Luft, in die sie greifen können«, erklärte der Drache, und er ließ Mila wieder sehen. Der Fluss schlängelte sich durch ein sandiges Bett, und von den Bergen kamen viele kleine Flüsse und Bäche, die ihn mit Wasser speisten. Sie fanden Seitentäler, in denen Felder und kleine Siedlungen lagen, und einmal hörte Mila Menschen aufschreien, als sie eines dieser Dörfer überflogen. Offenbar hatte man sie entdeckt.
» Die Sonne geht bald unter, Prinzessin«, sagte Nabu etwas später.
Mila wandte sich nach Westen. Nabu hatte die Verbindung inzwischen wieder aufgelöst, aber sie spürte die Strahlen der Sonne noch auf dem Gesicht.
Weitere Kostenlose Bücher