Drachensturm
einer reich gedeckten Tafel, und mit den Fremden gespeist. Er hatte sich angehört, was Kemaq zu sagen hatte, aber selbst nichts erwidert. Dafür hatte der Anführer der Fremden ihm eine Botschaft mitgegeben. Sie besagte, dass der Herrscher nun in ihrer Gewalt sei und sterben müsse, sollten die Krieger es wagen, anzugreifen. Sie hätten aber sonst nicht vor, ihm ein Leid anzutun, und die Großen des Reiches würden bald weitere Befehle aus seinem Munde erhalten. Der Sapay Inka hatte daraufhin kurz genickt, mehr nicht. Und jetzt lief Kemaq über die Straßen, in denen so viele Menschen gestorben waren, vielleicht auch sein Bruder Qupay. Es musste einfach ein böser Traum sein. Seine Beine fühlten sich schwer an, er schien kaum voranzukommen. Der Hügel war nicht weit entfernt, und an einem anderen Tag hätte er die Strecke mit doppelter, ja dreifacher Geschwindigkeit zurückgelegt, aber jetzt fühlte er sich, als müsse er die Last all der Seelen tragen, die hier ihr irdisches Leben verloren hatten.
Plötzlich rief jemand seinen Namen. Verwirrt blieb er stehen. » Kemaq, Kemaq, bist du das?«, fragte jemand.
» Jatunaq?«
» Bei Inti, ich dachte, du wärst tot, kleiner Bruder!«
Sie standen einander gegenüber, und das flackernde Licht der Fackeln ließ Kemaq daran zweifeln, dass er seinen Augen trauen konnte. » Jatunaq«, stieß er hervor, » unser Bruder Qupay ist mit den Priestern in die Stadt gekommen. Ist er unter den Gefangenen? Hast du ihn gesehen?«
Jatunaq starrte ihn an, dann schüttelte er den Kopf. » Es sind aber viele, und unter den Toten sah ich ihn auch nicht.«
» Kannst du nicht einfach mitkommen?«, fragte Kemaq, denn es waren nur wenige Fremde und Yunga auf der Straße.
Sein Bruder schüttelte den Kopf. » Sie sagen, dass sie für jeden, der fortläuft, zehn von denen töten, die zurückbleiben.«
Auf einmal tauchte ein Fremder aus einer Seitenstraße auf. Er brüllte etwas, das sie nicht verstanden, und schwang drohend seine Waffe. Erschrocken trennten sie sich. Kemaq lief weiter. Noch zweimal drehte er sich um. Er hatte Jatunaq gesprochen. Wenigstens über sein Schicksal hatte er nun Gewissheit. Doch was war mit Qupay? Er lief weiter und betete zu Tamachoc, dass er auch seinen zweiten Bruder am Leben erhalten möge.
Die Spanier sangen. Sie feierten ihren Sieg, und offenbar hatten sie unter den Vorräten der Stadt auch Maisbier entdeckt. Mila saß auf der Festungsmauer und lauschte in die Finsternis. Sie war froh, dass sie nicht gesehen hatte, was in der Stadt geschehen war – es reichte ihr, die halblauten Bemerkungen der Yunga zu hören, die beim Zusammentragen der Leichen hatten helfen müssen und damit noch lange nicht fertig waren.
» Ah, wenn das nicht die edle Comtesse von Tretzky ist«, rief eine Stimme.
Mila zuckte zusammen. Es war Konrad. Offenbar hatte er sich betrunken. » Feiert Ihr unseren Sieg denn nicht?«, rief er.
» Mir ist nicht danach, Konrad«, gab sie einsilbig zurück. Er hatte ihr gerade noch gefehlt.
Er ließ sich neben ihr nieder. Eine Ausdünstung von Bier wehte zu Mila herüber.
» Was für ein Sieg!«, sagte er.
Er war wirklich betrunken. Warum konnte er nicht einfach gehen? » Es war der Sieg Pizarros, nicht des Ordens«, sagte Mila kühl.
Konrad lachte leise. » Ja, das war er. Ihr habt uns schön im Stich gelassen, aber wir haben es auch ohne die Drachen geschafft. Das haben wir!«
Mila runzelte die Stirn. » Seit wann zählt Ihr Euch zu den Konquistadoren?«
» Seit ich mit der Waffe in der Hand an ihrer Seite kämpfte. Seit dieser Stunde. Gemeinsam haben wir gesiegt. Und sie haben gesehen, dass ich gut gekämpft habe. Bin ein guter Schütze, ein sehr guter, das bin ich.«
Seine Zunge war schwer. Mila schüttelte den Kopf. » Wenn der Hochmeister erfährt, dass Ihr ohne seine Erlaubnis an der Seite der Spanier gekämpft habt wie ein gewöhnlicher Waffenknecht …«
» Gewöhnlich?«, fiel er ihr ins Wort. » Ich bin nicht gewöhnlich! Mit dem Schwert kann ich umgehen. Mit der Büchse auch. Gekämpft habe ich. Ein Dutzend oder zwei habe ich eigenhändig …! Aber der Hochmeister erlaubt es nicht, mein Bruder sieht es nicht, und mein Onkel tut nichts, um mich zum Ritter in diesem verstaubten, stinkenden Drachenorden zu machen. Lieber nehmen sie Euch – eine Blinde! Aber Pizarro, Comtesse, Pizarro, der erkennt meinen Wert! Und er wird mir helfen. Ja, das wird er. Ich werde noch aufsteigen, wenn dieser ganze Orden schon längst gefallen ist
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