Drachentau
Tumaros erwachte. Zunächst wurde nur sein Atem schneller, dann blinzelte er und öffnete halb die Augen. Noch immer rührte er sich nicht, blickte nur still umher, seinen Gedanken folgend. Der letzte Traum war noch präsent, in dem er einen riesigen Schatz aus Tausenden Goldmünzen und Juwelen erbeutete. Ein langes Gähnen riss ihn von den Bildern los. Er öffnete seine großen, tiefblauen Augen ganz. Klarer als der reinste Saphir waren sie die gefährlichste Waffe, die Tumaros hatte. Mit einem Blick in seine Augen wurde seine Zauberkraft wirksam, mit der er andere Wesen in seinen Bann ziehen konnte. Sie mussten ihm dann folgen, wohin er sie rief, und waren für immer verloren. Hüte dich davor, einem Drachen in die Augen zu blicken. Du kommst nie wieder von ihm los und er wird dich mit Haut und Haaren fressen.
Ein feiner Luftzug strömte von draußen herein. Tumaros erhob sich und tapste zum Ausgang.
Dann wollen wir mal sehen, wie es meinem Mühlendorf so geht,
dachte er und grinste hämisch. Nach seinem letzten Besuch war es reichlich verkohlt. Er stieß sich vom Felsen ab und schwang sich in die Luft mit Kurs auf das Dorf am Rande vom Finsterwald. Lautlos schwebte das riesige Ungeheuer durch die Nacht, seine Flügel weit ausgestreckt. Aber jeder seiner Flügelschläge brachte einen heftigen Windstoß hervor.
Die meisten Bewohner von Mühlenau lagen in ihren Betten und schliefen. Nur vereinzelt sah man Kerzenschein aus den Fenstern flackern. Die Straßen waren leer. Tumaros sah sich das Dorf genau an. Die Hütten waren klein gehalten. Große Reichtümer schienen sie nicht zu bergen. Er spürte den regelmäßigen Herzschlag der schlafenden Bären. Angst hatten sie auch nicht. Er kniff die Augen zusammen.
Sie haben mein Holz gestohlen für ihre armseligen Hütten. Ich werde sie wieder lehren, was Drachen fürchten bedeutet.
Er flog eine große Schneise und glitt über den Mittelweg hinweg. Aber nicht gleich heute Nacht. Er wollte den Gedanken an ihre Angst und ihren Schrecken erst noch auskosten.
In Jakobs Hütte saßen Enkelin und Großvater bei Kerzenschein über einem Schachbrett zusammen. Rosa setzte ihren Turm und brachte den sonst nur schwer zu schlagenden Jakob in eine ausweglose Lage.
»Schach!«
Sein Blick musterte jede seiner Figuren. Seufzend nahm er den König und legte ihn hin. »Matt«
»Du bist nicht bei der Sache, Großvater.« Mit einem Stirnrunzeln blickte Rosa in an. »Willst du mir nicht sagen, was dir durch den Kopf geht?«
»Nichts, was eine so schöne, junge Bärin wie dich interessieren sollte«, antwortete er und stand auf. »Zeit, schlafen zu gehen.«
»Wie du meinst. Ich werde noch mal schauen, ob das Tor zu ist, damit sich die Hasen nicht an unserem Salat gütlich tun.«
Rosa sprang auf und war schon an der Tür, als Jakob ihr noch: »Das kann ich doch machen«, hinterher rief. Zu spät. Sie war draußen. Jakob folgte ihr.
Das Tor stand offen. Rosa wollte es gerade schließen, als ein unbekanntes Geräusch, ähnlich einem leisen Donner, aber irgendwie heller, ihre Aufmerksamkeit anzog. Sie schaute den Mittelweg hinunter. Ein Windstoß wirbelte ihre Haare auf. Im gleichen Augenblick gab das Wolkenband den Mond frei und die finstere Nacht hellte auf.
Und dann sah sie ihn! Unvorstellbar groß flog das Ungeheuer auf sie zu. Seine Spannweite überragte alles, was sie bisher gesehen hatte. Er hätte drei Hütten unter seiner Körpermasse begraben können. Und doch flog er majestätisch, jede Bewegung beherrschend, fast anmutig auf sie zu. Das Mondlicht brachte seine Panzerjuwelen zum Funkeln, zu einem unaussprechlichen, atemberaubenden Glanz. So etwas hatte Rosa noch nie gesehen. Da stand sie, gebannt und unbeweglich und für einen kleinen Augenblick hörte die Erde auf, sich zu drehen.
Und Tumaros sah Rosa! Ihre grazile, zerbrechliche Gestalt, ihr glänzendes, tiefschwarzes Fell, ihre ebenmäßigen, vollendeten Gesichtszüge, ihre großen, dunkelbraunen Augen.
Sie ist es,
durchschoss es ihn.
Sie ist der Schatz, der mir noch fehlt.
Ihre Blicke suchten sich, zogen sich an, wollten sich berühren, dann wurde Rosa hart am Arm gepackt und mit aller Gewalt ins Haus gezogen. Die Tür knallte zu und Jakob lehnte sich dagegen, schwer nach Luft ringend. Sein Herz schlug wild. Tumaros ist wieder aufgewacht!
Rosas Puls raste ebenso. Sie war tief erschrocken und zugleich ... begeistert.
»Ich habe ihn gesehen! Ich habe den Drachen gesehen! Er ist groß ... Er ist gewaltig ... Er ist ...
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